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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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brauchte, damit er üppig wachse;
die Liebe des Vaters war für ihn eine von vielen, vielleicht behinderte sie ihn
sogar, war ihm eine lästige, aufgedrängte Pflicht. Für den Alten war sie der
einzige Anker.
    Ich sage:
vielleicht – denn ich weiß es nicht.
    Die kleine Stadt blieb ruhig. Sie schien
dahinzusterben, immer langsamer zu atmen, immer leiser zu leben.
    Ich saß im Hof der Moschee auf einem
Stein, am Brunnen, während durch die Čaršija und andere Gassen hierhin und
dorthin Menschen gingen, allein oder zu mehreren, wie im Traume gingen,
entrückt, gar nicht recht wach, wie um etwas trauernd, wie im Stich gelassen,
leer, sie wanderten auf und ab, damit die Zeit vergehe oder damit die Zeit
komme, sie umwickelten mich gleichsam mit den träumerischen Kreisen, die sie
zogen, und dem dichten Netz der Spuren.
    Ich fragte: „Was geschieht da?"
    Sie hörten mich nicht.
    Hat sie Hadschi Sinanudins
Verhaftung so sehr erregt? Was für sonderbare Bande binden sie untereinander,
in welchen mir unbekannten und unzugänglichen Kreis sind sie da gebannt? Was
ist mit ihnen geschehen? Sie sind nicht voll Zorn, sind auch nicht
niedergedrückt, sie scheinen nur aus allem herausgehoben. So als betrachteten
sie die Stadt und die Welt mit einer starren, einer verschlafenen und doch
beharrlichen Neugier und warteten ab. Sie haben ihre eigenen, persönlichen Züge
verloren und gemeinsame, ungreifbare erworben.
    Ich mußte etwas unternehmen, denn
ich glaubte zu spüren, daß der Keim wuchs, unsichtbar, während die Zeit
inhaltlos blieb, mich von mir selbst und von ihnen trennte, und doch wußte ich
nicht, wo mein Platz war.
    Als wäre ich in eine unbekannte
Gegend unter unbekannte Menschen geraten.
    Ich wandte den Blick von ihnen ab
und schaute auf den dünnen Wasserstrahl, der auf dem Stein zu einem
Tropfenschwarm zerstob – ohne Farbe, weil die Sonne nicht schien; ich hatte
geglaubt, das, was für sich selbst lebt und ohne Ende, würde mich beruhigen.
Aber die Bangigkeit wuchs.
    Da sah ich, daß alle stehenblieben,
auf etwas horchten, was ich nicht wahrnahm, und dann alle in eine Richtung
strömten.
    „Wohin?" fragte ich einen.
    „Dorthin."
    „Weswegen?"
    „Alle gehen hin."
    Von der Kuršumli-Moschee drang
Geschrei herüber.
    Die Menschen wurden lebendig und
gingen schneller.
    Die Gassen waren vollgestopft,
nichts konnte ich sehen, nichts konnte ich hören, ich versuchte mich
vorzudrängen und geriet unverhofft in eine wogende Menge, wie in einen Strudel.
Sie quetschten und zerrten mich vorwärts und zurück, von einer Mauer zur
andern, überließen mich keinen Augenblick mir selbst, hielten mich in fester,
heißer, aufgeregter, allzu vertrauter, lästiger Umarmung, es war häßlich, es
war lächerlich, so als hätte der Teufel selbst dafür gesorgt, daß ich mich in
dem Rankenwerk von hundert Menschenarmen und -beinen verfinge und auf solche Weise
von allem, was geschah, abgedrängt würde. Eingezwängt in die Menschenmenge,
konnte ich mich drängen wie sie, konnte schreien, drohen, aber ich konnte nicht
entscheiden. So unwiderstehlich einbezogen, war ich einer von vielen, eine
sinnlose und schreckliche verlorengehende Kraft.
    Da geschah mit mir etwas ganz
Seltsames: Ich vergaß, wie unmöglich, wie unannehmbar meine Lage war, und ganze
Augenblicke lang führten mich meine Wurzeln und ein freigelegtes tiefes
Erinnern zurück, zwischen sie, machte uns alle gleich. Ich war nicht länger
umklammert. Es kränkte mich nicht, daß sie mich stießen, nicht mehr zuwider war
mir der lästige Geruch schwitzender Menschen, ich vergaß, daß ich mich
irgendwohin durchschlagen, daß ich zur rechten Zeit den rechten Ort erreichen,
daß ich etwas lösen mußte. Hier war mein rechter Ort, ich war dasselbe wie sie,
aufgeregt von der Vielzahl, aufgeregt von dem Schreien, aufgeregt von der
gemeinsamen Kraft, ich lehnte mich mit den Schultern an die Menschen um mich
herum, reckte die Arme, drohte jemandem, der nicht da war, war befreit von
allen Ängsten, überzeugt, daß die Zeit gekommen sei, da alle Schuld beglichen
werden muß, auch uralte, im Blut aufeinanderfolgender Generationen vermerkte,
und ich schrie laut, wie die anderen. Was schrie ich? Ich weiß nicht.
Vielleicht: Tod! So dachte ich. Oder ich heftete meine gestaltlose Stimme an
die anderen, als Schrei, als Drohung, damit sie stärker sei, denn ich war
einer von ihnen. Nein! Ich war einer von uns, hundertstimmig, hundertarmig,
hundertköpfig, tausend Qualen waren in mir, die

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