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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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ihm nicht helfen, die Mauer trennte mich von ihm, und er konnte mir
nicht helfen.
    Allein. Allein. Allein.
    Allein, wie ein Beschuldigter.
    Aber warum sollte ich schuldig sein?
Hatte ich denn etwas tun können? Heute morgen hatte sie keiner zurückhalten
können. Für sie war die dem Bösen bestimmte Zeit gekommen, wie ein Mondwechsel,
und das war stärker als ich gewesen, stärker auch als ihr eigener Wille. Ich
hätte ihnen abreden oder zureden können, es wäre gleich gewesen.
    Was ging dort unten vor? Oder war es
schon geschehen, schön vorbei? Ich wußte es nicht, es lief ohne mich. Sturm
wurde geerntet, weil Wind gesät war.
    Mußte jetzt überhaupt noch etwas
geschehen? Gewiß hatte sich alles schon beruhigt, sie waren
auseinandergegangen, nach Hause, beschämt und unzufrieden, an ihren Frauen
würden sie die Wut, den Grimm auslassen, der ihnen noch geblieben war, und ich
versuchte wohl ganz ohne Grund, mich fernzuhalten, gab mir sinnlos Mühe, meine
zerstreute Aufmerksamkeit auf den Herbst, die entlaubten Pflaumenbäume, die
schroffen Berggipfel, den Schnee, der bald käme, zu richten, sinnlos, denn
meine Gedanken weilten drunten in der Stadt. Vielleicht war nichts geschehen,
und das, was ich getan hatte, war ohne Folgen geblieben.
    Aber wenn ich auch Beklommenheit
spürte, vielleicht sogar Scham, weil ich den getöteten Jüngling den
aufgebrachten Menschen gezeigt hatte, so konnte ich mich doch mit der
Möglichkeit nicht abfinden, daß überhaupt nichts geschehen wäre. Ich hatte
gewollt, daß es geschehe, und war bereit gewesen, vor Gott meinen Teil der
Schuld zu übernehmen.
    Dieser Zwiespalt war quälend, aber
er befriedigte mich auch – er bewies mir, daß mein Gewissen wachte, sogar wenn
es sich um sie handelte.
    Der Derwisch ist erbarmungslos wie
ein Sperber und empfindsam wie eine alte Jungfer. Das hatte Hasan einmal
gesagt, spottend, wie gewöhnlich. Vielleicht hatte er recht,
denn die Beklommenheit, die ich spürte, wollte nicht weichen.
    Während auf solche Weise dunkle und
helle Schatten über mich hin-wegstrichen, während ich eine Schuld abwehrte, der
ich keinen Namen geben wollte, tauchten am Ende der Gasse fünf Reiter auf, die
Pferde hetzend, in langen Mänteln, mit Gewehren und Packtaschen.
    Ich erkannte den Muselim und seine
Knechte.
    Auch er erkannte mich und brachte
sein Pferd zum Stehen, überrascht und hämisch blickte er mich an.
    Im ersten Augenblick war ich
erschrocken – die Begegnung kam so unverhofft, und der Ort war so einsam.
Keiner hätte mir helfen können, keiner hätte es auch nur gesehen, wenn mir
etwas zugestoßen wäre. Und heute war der Tag der bösen Taten.
    Gewiß war auch er nicht wenig
verwundert, da er mich an diesem Ort sah, wo er mich im Traum nicht hätte
erwarten können. Hielt er mich für sein Verhängnis oder für gehetztes und
gestelltes Wild? Ich war ein herausforderndes Ziel, wie angeheftet an die
weiße Fläche der Moscheemauer.
    Seltsamerweise ging die Angst
schnell vorbei. Ich sah ihn an, gerade, aufgerichtet von trotzigem Widerstand.
Alles wußte ich, an alles erinnerte ich mich, als wäre es eben erst geschehen.
Ich brauchte mich gar nicht zu erinnern; denn es war in mir bereit als das, was
triebhafte Abwehr weckt, als das Widerwärtige schlechthin, über das man nicht
mehr nachdenkt. Auch auf seine vier Begleiter blickte ich, sie waren es, die
mich in der engen Tekieh-Gasse angegriffen hatten, damals, als alles begann.
Ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, wenn sie auf mich losgegangen wären,
wie damals, aber mich schreckten nicht so viele Augen, die sich wie Revolver
auf mich richteten. Ein rettender Haß stärkte mich wie Wein.
    Hätte sich der Muselim dazu
entschlossen, ich wäre augenblicks sein Opfer gewesen. Hätte er gewußt, wie
sehr er es bedauern würde, diese Gelegenheit verpaßt zu haben!
    „Wir sehn uns noch, Derwisch!"
    Ich dachte: geb's Gott, aber ich
sagte nichts. Ich hätte höchstens ein schroffes, bitteres Wort hervorgebracht,
und dann hätte ich ihn nie mehr gesehen, auch keinen anderen.
    Sie wendeten die Pferde und schossen
an der Moschee vorbei.
    Sie flohen aus der Stadt!
    Hätte ich Muße gehabt, ich wäre auf
die Landstraße gelaufen und hätte dem Muselim nachgeblickt, ihn verwünschend
und im voraus den Augenblick genießend, der uns wieder zusammenführen würde.
Doch ich hatte keinen Augenblick mehr zu verlieren, meine Wartezeit war abgelaufen.
Der Muselim flüchtete. Dann war es geschehen. Ich hatte nicht

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