Der Derwisch und der Tod
volle, rosige Jünglingshand,
wie sie die verwickelten Schnörkel der Buchstaben zog, eine unendliche Reihe
von Zeilen, über die einst fremde Augen gleiten würden, nicht daran denkend,
wie lange diese schwere Arbeit gedauert hatte, vielleicht nicht einmal ihre
Schönheit bemerkend. Ich war verwundert, als ich zum ersten Male diese
einzigartige Geschicktheit des jungen Mannes sah, und noch jetzt, nach so
vielen Jahren, erschien es mir als ein Wunder. Edler Schwung in den sich
schlängelnden Linien, Kraft in den Rundungen, ein ausgewogenes Kräuseln der
Zeilen, rote und goldene Initialen, farbige Zeichnungen auf den Rändern der
Blätter – alles schuf eine Schönheit, die imstande war, den Menschen zu
verwirren, ein wenig sündhaft auch, weil sie nicht Mittel, sondern Selbstzweck,
für sich allein bedeutend war, ein schillerndes Spiel von Farben und Formen,
das die Aufmerksamkeit von dem Ziele ablenkte, dem sie hätte dienen sollen, und
ein wenig Anlaß zu Scham, denn aus diesen gezierten Seiten stiegen Begehren
und Sinnlichkeit auf, vielleicht auch deswegen, weil Schönheit schon an sich
sinnlich und sündhaft ist, vielleicht aber legte ich auch in die Dinge unnütz
Bedeutungen.
Der Paradiesbaum duftete, der von
gestern abend, in dessen dichtem Dunstkreis ich kaum hatte atmen können, von
der Stadt her hörte ich Gesang, dasselbe Lied, das mich gestern abend mit
seiner nackten Schamlosigkeit entsetzt hatte, mich packte wilde Wut, die
gleiche, die mich gestern abend mit Angst erfüllt hatte, ich war aus der Bahn
geraten, aus dem Kreis geschleudert, nichts hielt mich mehr, nichts schützte
mich mehr vor mir und der Welt, auch der Tag beschirmte mich nicht. Ich war
nicht mehr Herr meiner Gedanken, nicht mehr Herr meiner Handlungen, war zum
Räuberhehler geworden. Fort mußte ich von hier, ganz gleich, wohin, fort von
diesem jungen Menschen, der mich mit seinem forschenden Blick reizte. Ich mußte
irgend etwas sagen, um mich nicht zu verraten, viel wußte er von dem, was in
mir vorging, etwas Dunkles lag in ihm, hart, aber still, nie hatte ich heißere
und dabei entschiedenere Augen gesehen.
Ich wandte mich von ihm ab, von dem
häßlichen Bild, das ich in ihm sah, und von dem grundlosen Haß, der in mir
aufwallte, der mich zu ersticken drohte wie Rauch, wie Dunst von Fäulnis. Wie
selbstverständlich er die Stadtwächter geholt hatte, damit sie den Flüchtling
einfingen. Keinen Augenblick hatte er über das Schicksal des Mannes
nachgedacht, über sein Leben, über seine mögliche Unschuld. Ich hatte mich die
ganze Nacht gemartert, er hatte augenblicks verurteilt. Auch jetzt malte er
ruhig seine wunderschönen sündhaften Buchstaben, so wie eine Spinne ihr wunderbares
Netz webt, geschickt, hart und ohne Empfinden – wie er.
Ich trat zu den ungleichen
Fußabdrücken im Sand und verwischte die Spur.
„An dem einen Fuß trug er keinen
Schuh", sagte Jusuf.
Er blickte mich an, verfolgte meine
Bewegungen und meine Gedanken. Mich packte der wahnwitzige Wunsch, ihm zu
helfen, damit er nicht länger im Dunkeln tappe, nicht lange herumrätsele, ihm
alles über den Flüchtling zu sagen, alles zu sagen, was ich über ihn, Jusuf,
dachte, und das wäre gar nichts Schönes gewesen, was ich über die anderen und
über mich dachte und über mancherlei, auch das, was ich nicht dachte, nur aus
Bosheit.
„Vielleicht haben sie ihn schon
gefaßt", sagte ich, während mir schwindelte, während die Sinne sich
verdunkelten.
Ein Augenblick hatte genügt, daß die
Vorsicht mich wachrief, daß die Worte sich änderten. Ich hatte auf einmal Angst
vor diesem jungen Menschen, wegen der Worte, die ich hatte sagen wollen, wegen
meiner Gedanken, was aus mir hätte werden, was er hätte tun können.
Was ich sagte, kam unerwartet,
widersprach dem hitzigen, zornigen Entschluß, den ich eben noch unterdrückt,
und es widersprach dem Klang der Stimme, die sich eher aufs Schmähen
eingerichtet hatte; er blickte mich verwundert, beinahe enttäuscht an.
Und da wurde mir klar, daß ich vom
ersten Augenblick an gewußt hatte, was dieser Mensch tun würde. Als ich mich
entschied, einem in der Tekieh alles zu sagen, als ich gerade ihn wählte, von
vornherein alle anderen verwerfend, als ich sagte, das beste sei, sich nicht
einzumischen, da war ich schon sicher, daß er die Häscher rufen würde. So
sicher, daß ich dann nach dem Gebet in der Moschee zögernd und auf mancherlei
Umwegen zurückkehrte, damit ich nicht sähe, wie sie ihn fassen und
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