Der Derwisch und der Tod
abführen
würden. Ich hatte auf seine Rücksichtslosigkeit gebaut. Ich hatte es gewußt,
und dennoch fühlte ich ihm gegenüber Widerwillen und Verachtung, als er es
getan hatte. Er war Ausführender meines geheimen Wunsches gewesen, nicht meines
Entschlusses – ich hatte keinen Entschluß gefaßt, der Entschluß kam von ihm,
aber auch wenn es meiner gewesen wäre, die Tat war sein.
Vielleicht tat ich ihm auch unrecht.
Wenn er in der Tat geglaubt hatte, ich wünschte, daß der Flüchtling der Wache
ausgeliefert würde, so läge seine Schuld nur im Gehorsam, und das bedeutete
keine Schuld. Seine Bereitschaft, hart zu sein, hätte ich noch gestern
Entschlossenheit genannt. Jetzt verübelte ich sie ihm. Aber nicht er hatte
sich verändert, sondern ich, und darum hatte sich alles verändert.
Ich wollte ihn mit Freundlichkeit
dafür entschädigen, daß ich ihm vielleicht unrecht getan hatte, wovon er zwar
nichts wußte, was mich aber störte, ich wollte es tun, obwohl ich meine
Auffassung von ihm nicht sehr geändert hatte, der Haß war noch nicht verflogen,
vielleicht hatte ich ihn nicht einmal gut versteckt.
Ich sagte ihm, daß sein Koran ein
wahres Kunstwerk sei, er schaute mich verwundert, beinahe erschrocken an, als
hätte er eine Drohung vernommen. Vielleicht geschah es, weil aufrichtige
Freundlichkeit zwischen uns selten ist, und wenn sie vorkommt, dient sie einem
Zweck.
„Du solltest nach Konstantinopel
gehen, damit du dich in der Kalligraphie vervollkommnest."
Jetzt zeigte sich in seinen Mienen
wahre, sehr schlecht verhohlene Angst.
„Warum?" fragte er leise.
„Du hast Hände von Gold, es wäre
schade, würdest du nicht alles lernen, was man lernen kann."
Er neigte den Kopf.
Er glaubte mir nicht. Er dachte, ich
suchte nach einem Vorwand, ihn zu entfernen. Ich beruhigte ihn, soweit sich
sein Mißtrauen in so kurzer Zeit beschwichtigen ließ, aber in mir blieb ein
seltsames Unbehagen zurück. Daß er mir nicht glaubte, war das schon gestern,
schon voriges Jahr, schon immer so gewesen, nur daß ich es erst jetzt
entdeckte? Fürchtete er denn auch mich, so wie ich ihn fürchtete?
Niemals früher hatte ich so gedacht,
alles ändert sich, wenn man aus seinem Gefüge gelöst wird. Gerade das aber
hatte ich nicht gewollt; nicht aus dem Gefüge gelöst zu werden, nicht den
Blickpunkt ändern, denn dann wäre ich nicht mehr das, was ich vorher war, und
was ich dann sein würde, das konnte niemand wissen. Vielleicht ein neuer und
unbekannter Mensch, dessen Handlungen ich nicht würde bestimmen und auch nicht
vorhersagen können. Unzufriedenheit ist wie ein Raubtier: hilflos, wenn sie
geboren wird, schrecklich, wenn sie erstarkt.
Jawohl, ich hatte den Flüchtling den
Häschern übergeben wollen, und darum war ich ruhig. Er war eine
Herausforderung, ein Aufstacheln, ein Locken ins Unbekannte, ein Held aus
Kindergeschichten, ein Traum von Tapferkeit, wahnwitziger Trost, gefährlicher
noch, falls ich nur dachte, er sei es, töten mußte ich meine unverantwortlichen
Gedanken, durch sein Blut mich an dem Ort einpflanzen, der mein war, mein nach
Vernunft und Gewissen.
Die Tekieh ruhte in der Sonne,
begrünt von Efeu und den saftigen Blättern anderer Gewächse, ihre dicken Mauern
und die dunkelrote Mütze des Daches strahlten altvertraute Sicherheit aus,
unterm Vordach hörte ich leises Taubengurren, es verschaffte
sich Eingang in meine eben noch verschlossenen Sinne, so kehrte die Ruhe
zurück, der Garten roch nach Sonne und erhitzten Gräsern, der Mensch muß einen
Ort haben, der ihm lieb ist, weil er sein ist und ihn beschützt, die Welt ist
voller Fallen, wenn du ohne Stütze bist. Langsam, den Fuß voll aufsetzend,
schritt ich über das hoch aufgeschossene Gras, meine Hand berührte das
Perlmutterkügelchen einer Perlenstrauchfrucht, ich vernahm das Gurgeln und
Glucksen des Wassers, ich richtete mich wieder ein in der altvertrauten Welt,
wie ein nach langer Krankheit Genesener, als Rückkehrender, denn in Gedanken
war ich eine ganze lange Nacht hindurch fern gewandert, jetzt aber war Tag, die
Sonne schien, ich war zurückgekehrt, und alles sah wieder schön aus, wie neu
gewonnen.
Doch als ich an die Stelle kam, wo
wir gegen Morgen auseinandergegangen waren, da sah ich wieder den Flüchtling:
ein verschwommenes Lächeln und ein spöttischer Gesichtsausdruck schwebten vor
mir in der Glut des Tages, die sich mit steigender Sonne verstärkte.
„Bist du zufrieden?" fragte er
und sah mich ruhig an.
„Ich bin
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