Der Derwisch und der Tod
fürchten, und wir würden für die sprechen,
die nicht anwesend waren, dann erschiene das Strengste als das einzig Annehmbare.
Mit nur einem sprechen, das wäre leichter und redlicher, da ist keine Mehrheit,
die die Meinung mitzieht, und vor weniger Ohren nimmt man mehr Rücksicht auf
Gründe der Vernunft. Nur, wen sollte ich wählen? Der taube Mustafa. schied
sicher aus, wir sind zwar gleich vor Gott, aber jedem wäre es lächerlich
erschienen, hätte ich mich mit ihm beraten – und das nicht deswegen, weil er
taub war. So ganz von den Gedanken in Anspruch genommen an seine nicht
angetraute Frau, vor der er oft die Flucht ergriff, worauf er nächtelang in der
Tekieh schlief, und an die fünf Kinder – eigene und übernommene –, hätte er nur
darüber gestaunt, wie ich ihn über etwas befragen könne, wovon er nichts weiß –
und viele Dinge gab es, über die er so vollkommen unwissend war, daß er in
dieser Hinsicht seinen zahlreichen Kindern glich.
Hafiz Muhamed würde mir zerstreut
zuhören, mit einem nichtssagenden Lächeln. Er lebte über vergilbte
Geschichtsbücher gebeugt. Für diesen wunderlichen Menschen – ich beneidete ihn
nun darum – schien nur die vergangene Zeit zu bestehen, auch die gegenwärtige
Zeit war ihm nur Zeit, die vergehen würde. Selten war jemand so glücklich aus
dem Leben ausgeschlossen wie er. jahrelang war er durch den Orient gewandert,
hatte in berühmten Bibliotheken nach historischen Werken gesucht und war mit
einem großen Bündel Bücher in seine Heimat zurückgekehrt, arm, und doch reich,
voll von Kenntnissen, die keiner brauchte außer ihm. Das Wissen sprudelte aus
ihm wie ein Fluß, wie eine Flut, man fühlte sich überschüttet von Namen und
Ereignissen, fühlte sich von Angst gepackt angesichts der sich drängenden
Gestalten, die in diesem Manne lebten, als wären sie gegenwärtig, als wären das
nicht Geister und Schatten, sondern lebendige Menschen, die unablässig wirken,
gleichsam in schrecklicher Ewigkeit des Bestehens. In Stambul hatte ihn ein
Offizier drei volle Jahre in Astronomie unterrichtet, und wegen dieser beiden
Wissenschaften maß er die Dinge an den endlosen Weiten des Himmels und der
Zeit. Manch mal glaubte ich, er schreibe auch eine Geschichte unserer Tage,
aber dann zweifelte ich wieder, denn für ihn erhielten Menschen und Ereignisse Größe und Bedeutung erst dann, wenn
sie tot waren. Er konnte nur eine Philosophie der Geschichte schreiben, eine
hoffnungslose Philosophie von übermenschlichen Maßstäben,
gleichgültig bleibend gegenüber einem gegenwärtigen Leben. Hätte ich ihn
über den Flüchtling befragt, so hätte er es gewiß als Qual empfunden, daß ich
ihn an diesem wunderschönen Morgen, den er ohne Fieber empfangen
hatte, mit Unannehmlichkeiten belastete, und daß ich ihn zwang, über solche
Belanglosigkeiten nachzudenken, wie es das Schicksal eines Mannes im
Tekiehgarten ist. Und er hätte so unbestimmt geantwortet, daß doch wieder alles
meinem Entschluß überlassen geblieben wäre. Ich entschied mich, mit Mula Jusuf
zu sprechen.
Er hatte gerade seine Waschung
vollzogen und wollte sich, nachdem er mich gegrüßt hatte, wortlos entfernen.
Ich hielt ihn zurück, sagte ihm, daß ich mit ihm sprechen wolle.
Er sah mich kurz an und senkte
gleich den Blick, er fürchtete etwas, aber ich hatte nicht den Wunsch, aus
seiner quälenden Erwartung irgendeinen
Vorteil zu ziehen, und erzählte ihm alles über den Flüchtling: Ich hätte gehört und von meinem Zimmer
aus gesehen, wie er in den Garten getreten sei und sich im Gestrüpp verborgen
habe. Gewiß stecke er noch jetzt irgendwo hier, und als gewiß
könne man auch annehmen, daß er auf der Flucht sei, denn sonst würde er
sich nicht verstecken. Und ich sagte noch, was der Wahrheit entsprach: daß ich
nicht gewußt habe, was ich tun solle, daß ich es auch jetzt
nicht wisse, nämlich, ob ich ihn den Behörden anzeigen oder alles dem
Zufall überlassen solle. Vielleicht trage er eine Schuld – Schuldlose schlichen
sich nicht durch die Nächte –, wiederum aber dächte ich auch so: Ich weiß
nichts von ihm und könnte unrecht tun, davor aber möge mich Gott bewahren.
Jetzt müßten wir uns überlegen: Ist es von Übel, wenn wir uns einmischen oder
wenn wir uns nicht einmischen? Ist es schlimmer, eine Missetat zu decken –
wenn es sich um eine Missetat handelt – oder Barmherzigkeit zu verweigern?
Er blickte mich gespannt an, bemühte
sich freilich, nicht die ganze hellwache
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