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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Aufmerksamkeit zu verraten, die meine
verworrene Geschichte in ihm hervorgerufen hatte, aber sein faltenloses,
gesundes Gesicht, noch erfrischt vom Wasser und vom Morgen, wurde lebhaft und
unruhig.
    „Ist er noch im Garten?" fragte
er leise.
    „Solange es dunkel war, hat er ihn
nicht verlassen, und tagsüber wagt er sich wohl nicht hinaus."
    „Was meinst du, was wir tun
sollen?"
    „Ich weiß nicht. Ich habe Angst,
mich zu versündigen. Die Menschen würden uns Vorwürfe machen, wenn er schuldig
ist, und auch die Tekieh hätte Schaden. Ist er aber nicht
schuldig, so wird die Sünde auf unsere Seelen fallen. Und Gott allein kennt die
Schuld eines jeden, die Menschen kennen sie nicht."
    Rosiges Morgenlicht, noch beschwert
mit den Schatten der Nacht, Heiterkeit des kindlichen Tages, die Stunde, da
alle Farben lebhafter und all die vereinzelten Geräusche deutlicher werden. An
diesem Tage aber nahm ich die Freude des unverbrauchten Morgens nicht wahr,
verband ich den gestrigen Tag mit dem Heute, durch keinen Schlaf von den
gestrigen Sorgen erleichtert.
    Als ich aus der Moschee
zurückkehrte, ohne im Morgengebet Ruhe gefunden zu haben, stieß ich im
Tekiehgarten auf Stadtwächter mit Mula Jusuf. Sie suchten jeden Winkel ab,
sahen in das Häuschen hinein, von dem Flüchtling aber war nichts zu sehen.
    „Vielleicht habe ich mich
geirrt", sagte ich zu den unzufriedenen Stadtwächtern.
    „Du hast dich nicht geirrt. Er ist
heute nacht entflohen und hat sich irgendwo versteckt."
    „Hast du sie gerufen?" fragte
ich Jusuf später, als die Wächter gegangen waren.
    „Ich habe gemeint, du wünschst es
so. Hättest du es nicht gewollt, so hättest du auch nichts gesagt."
    Übrigens, ganz gleich, so war es
wohl am besten. Ich hatte Verantwortung und Schuld abgeschüttelt und niemandem
etwas Böses zugefügt. Meine Sache war es nun, erleichtert aufzuatmen und nicht
mehr an die vergangene Nacht zu denken.
    Und doch dachte ich an sie. Mehr,
als ich das durch irgend etwas rechtfertigen konnte. Ich ging den Garten ab,
auf dem Sand des Weges sah ich seine
Spuren, der eine Fuß beschuht, der andere bloß, ihre Abdrücke nebeneinander, nichts als dies war
von ihm übriggeblieben, freilich auch abgebrochene Zweige im Gebüsch und das
Bild der ausgebreiteten Arme und der auseinandergesetzten Beine
an der Tür und die Gegenwart von etwas Ungewöhnlichem, das unter dem
Geäst der alten Bäume schwebte, ein neuer Duft, das Fehlen von Leere und Öde,
eine Frische wie nach dem Gewitter. Jetzt, da er sich nicht in
meiner Reichweite befand, da keine Gefahr drohte, weder mir von ihm
noch ihm von mir, dachte ich über den unbekannten Menschen höchst seltsam, als
wäre er ein Sturzbach, ein reiner Wind, ein Traum. Er hatte sich
verflüchtigt, die Erfahrung leugnete ihn, ein lebendiger Mensch hätte
nicht unbemerkt entkommen können, der Abdruck zweier Füße wiederum bestätigte
seine Anwesenheit, ohne daß diese gegenständliche Spur einen
sonderbaren Sinn ausgelöscht hätte, den ich spürte, wenn ich ihn auch nicht
ganz verstand. Er war den Häschern entflohen, war durchs Fenster seines Hauses
gesprungen, als sie kamen, ihn zu holen, oder hatte die Gefängnismauer
durchbrochen, hatte sich einen Felsen hinabgeworfen, war durch ein unbekanntes
Tor getreten, fremden umfriedeten Bereich nicht achtend, und er war
verschwunden, kein Schritt hatte ihn verraten, durch den Ring der lauernden
Häscher hindurch, als wäre er ein Geist. Er hatte mir nicht getraut, keinem
würde er mehr trauen, er flüchtete vor der Angst
der anderen wie vor der Grausamkeit der Häscher, nur auf sich selbst sich
verlassend. Es tat mir leid, daß er den Glauben an die Menschen ganz verloren
hatte, er würde unglücklich sein, innerlich leer bleiben. Dafür war er jetzt am
Leben und immerhin frei, aber ich wünschte mir sehr, daß er niemals erführe,
wie ich der Schuldige an seinem Verderben hätte sein können. Der Mann ging
mich nichts an, wir schuldeten einander nichts, er konnte mir nichts Böses und
nichts Gutes tun, und doch wäre es mir lieb gewesen, hätte er in seine
Einsamkeit einen guten Gedanken an mich mitgenommen, damit er in dem drückenden
Mißtrauen gegenüber den Menschen sich anders an mich erinnere als an die
übrigen.
    Später sah ich, wie Mula Jusuf den
Koran abschrieb, draußen, vor der Tekieh, im dichten Schatten eines
Granatapfelbaumes, er brauchte ganz gleichmäßiges Licht, ohne Grellheit und
ohne scharfe Schattenlinien. Ich beobachtete die

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