Der Dieb der Finsternis
verletzen.«
»Verteidigst du sie?«, fragte KC. Beinahe schien sie es zu hoffen.
»Ich verteidige zwei Menschen, die einander lieben. Ihr seid Schwestern, und jede ist für die andere das Einzige an Familie, die sie noch hat. Ich weiß, dass ihr zwei das schon irgendwie auf die Reihe bekommt.«
KC entspannte sich, atmete tief durch und sah Michael in die Augen; seine beruhigende Stimme, sein Bestreben, Harmonie zu schaffen, wirkten ansteckend. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
»Dürfte ich wohl?« KC nahm Michaels Whiskyglas in die Hand. »Ich brauche das jetzt irgendwie.«
KCs Laune hob sich schlagartig, als ihr Blick auf die beiden Lederrollen fiel, die auf dem Esszimmertisch lagen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was im Moment in Iblis’ Kopf vorgeht«, sagte sie, als sie eine der Rollen in die Hand nahm, öffnete und auf die beiden Schlangenköpfe schaute, auf die roten Augen und die Silberzähne, die im Licht des Kronleuchters funkelten. »Wie um alles in der Welt hast du den falschen Kopf hinbekommen?«
»Ich habe ihn heute Morgen angefertigt, als du noch geschlafen hast. Ich habe einen Abdruck vom Kopf gemacht und eine Gussform hergestellt. Sie ist ziemlich primitiv.«
»Sie war gut genug, um ihn zu täuschen. Wo hast du das gemacht?« KC schloss das Behältnis und legte es wieder zurück auf den Tisch.
»In der Werkstatt im Hangar.«
»Du hast letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen, stimmt’s?«, fragte KC und schüttelte den Kopf. »Ich wäre mit dir gegangen.«
»Du brauchtest die Ruhe.«
»Und du nicht?«
»Dein Halsband war ein sehr kostspieliges Stück, um ihm damit was anzuhängen.«
»Glaub mir«, entgegnete KC. »Einen besseren Verwendungszweck hätte es dafür gar nicht geben können.«
»Warte erst mal, was passiert, wenn sie sein Haus unter die Lupe nehmen. Dann wird für die Kunstwelt Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen.«
»Was hatte er denn an Kunstwerken?«
Michael schwieg einen Moment, um es sich auf der Zunge zergehen zu lassen. »Da Vincis ›Madonna mit der Spindel‹.«
»Was?« KC war ehrlich überrascht.
»Picassos ›Nature Morte à la Charlotte‹«, fuhr Michael fort.
»O Mann, der war ja echt gut drauf.«
»Er hat den Einbruch ins Gardner Museum in Boston gemacht.«
»Du hast die Rembrandts gesehen?«
»Und den Vermeer, den Manet und die fünf Degas.«
KC konnte nicht anders, sie musste lachen, als ihr das gewaltige Ausmaß von Iblis’ Taten bewusst wurde.
»KC?«, sagte Michael.
»Ja?« Sie schüttelte den Kopf, immer noch lachend.
»Sein Lieblingsgemälde, das Bild, das er am auffälligsten zur Schau gestellt hat, ist ›Concerto de Oberion‹.«
KCs Lachen verstummte.
»Er hat in Berlin die Museumsangestellten ermordet«, sagte Michael mit Verachtung in der Stimme. »Er hat den Museumsdirektor gefoltert.«
KC und Michael verfielen in Schweigen. Es schien ewig zu währen, als wollten sie damit den Leuten Respekt erweisen, die sechs Jahre zuvor im Franze-Museum ihr Leben gelassen hatten.
»Darf ich mir die Karte mal ansehen?«, fragte KC schließlich, trank den Rest von Michaels Whisky und versuchte, das Thema zu wechseln.
Michael nahm die zweite Lederröhre vom Tisch und öffnete sie. Er zog die Gazellenhaut heraus und rollte sie vor KC auf dem Esstisch aus. Nebeneinander standen sie unter dem Kronleuchter und schauten schweigend auf die aufwendigen Details.
»Sie ist unglaublich komplex …«, flüsterte KC ehrfurchtsvoll, als hätte sie eine Reliquie vor sich.
Die Karte reichte vom östlichen Teil Afrikas über den Indischen Ozean bis zum Südchinesischen Meer und zeigte detaillierte Illustrationen von Indonesien, Japan, Australien und sogar den winzigen Inselgruppen Mikronesiens. Viele der großen Flüsse Asiens waren mit akribischer Genauigkeit eingezeichnet: der Ganges, die Padma, der Jangtsekiang, der Gelbe Fluss und der Perlfluss. Gleiches galt für die Städte und Dörfer an den Ufern.
Im oberen Teil der Karte erblickte KC eine gewaltige Schlange mit Drachenkopf. »Sag mir bitte nicht, dass das der Ort ist, an den das Ganze hier führt.«
»Nein«, sagte Michael. »Das ist Terra Incognita, unbekanntes Land. Manche Kartographen kennzeichneten unerforschte Gebiete auf ihren Karten gern mit ausgefallenen Darstellungen von Ungeheuern aus der Mythologie.«
KC lächelte, hockte sich auf den Tisch und sah sich die Karte weiter an. So glitt ihr Blick schließlich über die Gebirgszüge des Himalaja und blieb auf
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