Der Dieb der Finsternis
es bereits vorgeschickt. Ich fliege mit der Abendmaschine nach London zurück. Ich will nur noch hier weg und diese Stadt nie wiedersehen.« Cindy nahm das Kleid vom Bügel, stülpte es sich über den Kopf, zog es herunter und strich es sich am Körper glatt. »Wahrscheinlich werde ich meinen Job verlieren.«
»Wirst du nicht«, erwiderte KC, wie sie es als große Schwester in solchen Fällen früher auch immer gesagt hatte.
»Glaubst du vielleicht, die hätten Verständnis für so was?«
»Du bist entführt worden«, gab KC zur Antwort, als würde das alles erklären.
»Was redest du da? Ich kann denen doch nicht erzählen, dass ich entführt wurde. Wie hört sich das denn an? Wie die jämmerlichste aller jämmerlichen Ausreden. Das ist ja noch schlimmer als ›Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen‹. Und außerdem: Hast du an irgendeinem Punkt die Istanbuler Polizei angerufen und eine Vermisstenmeldung aufgegeben? Nein, hast du nicht. Denn du hattest wahrscheinlich Angst, dass man dich sofort verhaften würde. Siehst du, deshalb gibt es keine Beweise, dass ich entführt worden bin. Und wie sollte ich denen als Nächstes verklickern, dass ich freigekommen bin?« Cindy streckte die Arme aus, die Handflächen nach oben gedreht, und spielte die Szene. »›Meine Schwester und ihr Freund sind losgegangen und haben eine antike Seekarte geklaut, und dann haben sie den Tresor eines Verrückten geknackt, um mich zu befreien.‹ Ich kann mir nicht vorstellen, dass das bei der Personalabteilung gut ankommen würde.«
KC saß da, hörte einfach nur zu und begriff allmählich.
»Wenn meine Vorgesetzten herausfinden, dass meine Schwester eine Diebin ist … was meinst du wohl, wie groß dann meine Aussichten wären, meinen Job zu behalten? Das heißt also, dass ich es jetzt genauso machen muss wie du und mir irgendeine Lüge einfallen lassen muss. Hättest du vielleicht einen guten Rat?«, fragte Cindy frostig. »Sie haben mich bei meinem Bewerbungsgespräch gefragt, welchen Menschen in meinem Leben ich am meisten bewundere, wer mich am meisten geprägt und beeinflusst hat. Und weißt du, was ich geantwortet habe?« Cindy schüttelte enttäuscht den Kopf. »Die Antwort auf jede dieser Fragen warst du.«
Cindy nahm ihre Bürste wieder in die Hand und fuhr sich ein letztes Mal durch ihr Haar, bevor sie es mit einer großen schwarzen Spange zusammensteckte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte KC niedergeschlagen.
»Weißt du eigentlich etwas über Arbeit?«, fragte Cindy. »Legale Arbeit?«
KC bemerkte, wie sie allmählich die Rollen tauschten. Bisher war sie immer diejenige gewesen, die den Ton angab, die sagte, wo es langging, die über Recht und Unrecht referierte und ihrer Schwester sagte, was sie zu tun hatte. Aber jetzt baute Cindy sich vor ihr auf, und ihre Worte bohrten sich wie Dolche in KCs Herz. KC fühlte sich wie ein Kind, das die Erwartungen nicht erfüllt und ihre Schwester enttäuscht hatte.
»Sieh es positiv, KC: Dad wäre mächtig stolz auf dich.« Cindy drehte sich um und ging zurück ins Bad.
KC blieb auf dem Bett sitzen. Ihr Herz klopfte heftiger als in jenen Minuten in der Hagia Sophia, als sie Angst gehabt hatte, geschnappt zu werden, heftiger als auf den Straßen Istanbuls, als sie mit Michael um ihr Leben gerannt war. Obwohl sie in beiden Fällen der Angst ins Auge geblickt hatte, alles zu verlieren, was ihr lieb und teuer war – es war nichts gewesen im Vergleich zu den Gefühlen, die sie jetzt übermannten. Ihre Angst, dass Cindy beschließen könnte, aus ihrem Leben zu verschwinden und sie zu verlassen, war sehr viel größer. Cindy war alles, was sie hatte.
Das Läuten eines Mobiltelefons schreckte KC aus ihren Gedanken. Cindy kam aus dem Bad, verließ das Schlafzimmer und eilte ins Untergeschoss. KC konnte hören, wie sie das Gespräch entgegennahm und leise mit jemandem redete. Allein mit ihren Gedanken fühlte KC sich plötzlich einsam. Cindy hatte bereits gepackt, im räumlichen wie im übertragenen, gefühlsmäßigen Sinn.
»Großartig«, sagte Cindy, als sie forschen Schrittes ins Schlafzimmer zurückkam. »Da hatte ich gedacht, ich würde nach London zurückkehren, um darum zu kämpfen, meinen neuen Job zu behalten, und jetzt muss ich darum kämpfen, ihn zurückzubekommen. Vielen Dank, dass du nicht nur mein Vertrauen zerstört, sondern auch meine Karriere ruiniert hast.« Cindy schnappte sich ihre Handtasche, ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um
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