Der Dieb der Finsternis
und starrte KC wütend an.
»Halt dich aus meinem Leben raus«, sagte sie mit wohlüberlegter Schärfe. Und dann ging sie.
KC empfand überwältigende Schuldgefühle: Sie hatte nicht nur das Leben ihrer Schwester zerstört, ihre Karriere, ihr Vertrauen, sie hatte ihr auch sämtliche Hoffnung geraubt.
KC hörte, wie die Tür der Suite zuschlug, und lief aus dem Schlafzimmer auf den Treppenabsatz, von dem man auf den großen Wohnraum blicken konnte. Sie schaute hinunter auf die lederne Transportrolle, die auf dem Esszimmertisch stand. Die Welt hatte diese Karte noch gar nicht zu Gesicht bekommen, und doch hatte sie bereits das Leben mehrerer Menschen zerstört.
Mit starrem Blick auf die Flasche Jack Daniels, die Michael zurückgelassen hatte, stieg KC die Treppe hinunter. Sie schenkte sich einen Drink ein und schaute aus den riesigen Fenstern auf die Minarette der Hagia Sophia, die in den Himmel stachen. Sie stellte sich vor, wie friedlich und unbeschwert man sich fühlen musste, wenn man auf dem obersten Balkon stand, hoch über der Stadt, fern der Widrigkeiten des Lebens.
Sie nahm die Lederrolle in die Hand, hob die Verschlussklappe, drehte die Verriegelung der innenliegenden Metallröhre auf und stellte das Ganze auf den Kopf. Sie musste noch einmal einen Blick auf dieses Werk werfen, das ihr eine solche Last auf die Schultern gelegt hatte – auf die Karte, die so voller Geheimnisse schien und Simon mit so viel Furcht erfüllt hatte.
Aber nichts rutschte aus der Röhre heraus. Sie war leer.
Die Karte war verschwunden!
KCs Mobiltelefon läutete. Sie riss es aus der Hosentasche, war aber so verwirrt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Immer wieder irrte ihr Blick durch das Zimmer und zurück auf die Lederrolle.
Wieder läutete KCs Telefon. Voller Hoffnung schaute sie auf die Nummer, aber es war nicht Cindy, die anrief. KC kannte die Nummer gar nicht. Sie erwog, den Anruf zur Mailbox weiterzuleiten, verwarf den Gedanken dann aber, klappte das Gerät auf und nahm das Gespräch entgegen.
»Hallo«, meldete sie sich.
»Hallo, KC.«
KC stockte der Atem. Die Wände des Zimmers schienen mit einem Mal näher zu kommen, und die Luft wurde ihr knapp. Verwirrt lauschte sie der Stimme des Anrufers. Die verschwundene Karte wurde nebensächlich.
»Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe?«, wisperte Iblis. »Was passiert, wenn du mich betrügst?«
***
Cindy lief durch die Halle des Four Seasons Istanbul und nach draußen auf die Straße.
»Guten Abend, Ma’am.« Der Türsteher nickte ihr zu. »Darf ich Ihnen ein Taxi besorgen?«
Cindy ignorierte den Mann und schaute die Straße hinauf und hinunter. Schließlich sah sie den Chauffeur der Limousine, der das Schild in der Hand hielt, auf dem »Ryan« zu lesen war. Er stand südlich vom Hotel und lehnte sich gegen einen schwarzen Mercedes. Die Longchamp-Tasche über der Schulter, die Handtasche unter dem Arm, ging Cindy auf den Wagen zu. In ihrem Chanel-Kleid und den Prada-Schuhen sah sie wie eine Dame der Gesellschaft aus.
»Einen schönen Abend noch!«, rief der Türsteher.
Cindy machte sich nicht die Mühe, den Mann eines Blickes zu würdigen, und ging auf den Chauffeur der Limousine zu, der ihr die Tür offenhielt. Er war groß und drahtig und erkennbar ein Einheimischer. Cindy vermied es, ihm in die Augen zu sehen, und schwieg, als er sie begrüßte. Dumpf fiel die Autotür hinter ihr zu. Cindy sah sich drei großen schweren Männern gegenüber, die sie schweigend musterten. Die Waffen, die sie trugen, waren nicht zu übersehen. Das Zuschnappen der Türschlösser hallte überlaut im Innern des klimatisierten Wagens wider.
***
Iblis drückte sich das Mobiltelefon fest gegen das Ohr. Blut rann über seinen Arm, sammelte sich in seiner Armbeuge und tropfte auf den Metallboden des Mannschaftswagens der Polizei. Jeder Tropfen ließ die Blutpfütze, in der Iblis stand, größer werden. Zu seinen Füßen lagen mehrere tote Polizisten.
In der freien Hand hielt Iblis eine dünne, zehn Zentimeter lange Metallklinge. Er hielt sie mit dem gleichen Stolz, mit dem ein Tennisspieler den Schläger hält, mit dem er gerade den Matchball verwandelt hat.
Mit dieser Klinge hatte er die Polizisten blitzschnell durch Schnitte in den Hals getötet. Die schmale, scharfe Waffe hatte in einer dünnen Umhüllung aus medizinischem Plastik gesteckt. Ein Jahr zuvor hatte Iblis sich mit seinem Jagdmesser den Unterarm aufgeschnitten, um das Spezialmaterial, das er zu einem
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