Der Dieb der Finsternis
er das kartographische Relief spüren.
Busch stürzte ins Krankenzimmer. Er hielt das Navigationssystem in der Hand, das sich sonst im Wagen befand. »Eine Privatmaschine hat Atatürk vor einer halben Stunde verlassen und ist jetzt über der östlichen Türkei. Beide Transportrollen sind an Bord. Und hör dir das hier an.« Busch hielt kurz inne und sagte dann: »Das Flugzeug gehört einem Philippe Venue.«
Michael drehte sich zu Simon um. »Venue? Ist das nicht der Mann, der dafür gesorgt hat, dass du ins Gefängnis gekommen bist?«
Simon nickte.
»Kann es sein, dass KC in der Maschine ist?«, fragte Busch.
»Ja. Gut möglich. Zusammen mit Iblis und Cindy.«
»Weißt du, wohin sie fliegen?«, fragte Michael.
Simon wies auf die Mitte der Karte und nickte. »Zum Kangchendzönga. Das ist ein Berg im Himalaja, nach dem Mount Everest und dem K2 der dritthöchste Berg der Erde. Viele Jahre hielt man ihn für den höchsten Gipfel der Welt.«
»Und dann sind die anderen plötzlich noch ein Stückchen gewachsen?«, fragte Busch lachend.
»Der Kangchendzönga befindet sich zum Teil in Nepal, hauptsächlich aber in Indien, nicht weit von Darjeeling. Der Name Kangchendzönga bedeutet ›die fünf Schätze des Schnees‹. Ziemlich passend.« Simon fuhr fort, die mit vielen Anmerkungen versehene Karte zu analysieren, las die englischen Übersetzungen dieser Anmerkungen und sah sich die markierte Route genauer an, die vom Golf von Bengalen durch Bangladesch nach Indien führte. Dabei wurden seine Augen vor Staunen immer größer.
»Ich bin sicher, dass du das alles spannend findest«, meinte Busch, als er sah, wie sehr Simon in die Karte vertieft war. »Aber ich würde gerne erfahren, was das alles zu bedeuten hat.«
Simon blickte auf, und schlagartig hatte die Gegenwart ihn wieder. Er ließ sich einen Moment Zeit, ehe er antwortete: »Es gibt Orte auf Erden, um die sich Sagen ranken. Friedvolle, legendäre Welten, in denen die Idealvorstellungen einer utopischen Existenz Wirklichkeit sind. Orte wie Shambhala, Shangri-La, der Garten Eden, Ney-Pemathang, Aryavarta, Hsi Tien, das Land des Lebendigen Feuers. Die Hindus nannten ihn den Berg Meru, ihren Olymp, von dem es hieß, er befinde sich im Mittelpunkt der Erde. Sie behaupteten, er werde von Schlangen bewacht, die jeden töten, der versucht, sich Zutritt zu verschaffen zum Reich des absoluten Wissens. Sie betrachteten es als das Reich der Glückseligkeit. Einige Juden sprachen von einem Land namens Lux, während es bei den Cioces die Legende von Stauricha gab.
Man glaubte, dass in diesen Welten die Geheimnisse der Götter bewahrt würden, die Reinheit des Paradieses. Sie waren friedliche Refugien, wo das Wetter immer schön ist, die Menschen immer nett und liebenswürdig sind und es so viel Essen und Gold und Juwelen gibt, dass es die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Und das Großartigste von allem: In diesen Refugien währt das Leben ewig. Allerdings gibt es auch die Gegenstücke dieser Orte, die Reiche der Finsternis, die Reiche des Bösen.
Bei den Griechen gab es den Tartaros, einen Ort, der noch schlimmer ist als der Hades. Die Juden nennen es Gehenna oder Scheol. Im Islam ist es Dschahannam. In China und in Japan spricht man von Di Yu. Die Buddhisten und Hindus nennen es Naraka. Die Mayas nannten es Xibalbá, die Sumerer Das Große Darunter. Viele Namen, aber alles Synonyme für die Unterwelt – für das, was die Christen die Hölle nennen.
Diese Karte, die Piri Reis gezeichnet hat«, Simon zeigte mit der Hand auf die Fotokopie, »entstand unter Verwendung von Karten, die sehr viel älter waren und aus einer längst vergessenen Zeit stammten. Der Ort, an den diese Karte führt, ist eine Welt, nach der in der Vergangenheit schon viele gesucht haben. Ich weiß nicht, ob es Shambhala ist, Shangri-La oder Aryavarta, aber dieser Ort existiert. Dass man nicht weiß, wo er sich befindet, hat einen guten Grund. Aus den Notizen, die Piri Reis gemacht hat, geht hervor, dass sein Onkel über die Flüsse Bangladeschs nach Indien gesegelt und dann zu Fuß weitergewandert ist, um einen gewaltigen Schatz zurückzubringen in eine Welt der Schätze, einen Ort, an dem die Worte der Götter aufbewahrt werden. In der Übersetzung der Piri-Reis-Notizen heißt es, es gebe keinen heiligeren Ort und keinen Ort, an dem größere Finsternis herrsche. Eine Welt der Götter und Dämonen, des Leidens und der Seligkeit, der Liebe und des Elends. Einen Ort, der geschützt und
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