Der Dieb der Finsternis
weist. Wie immer der Name lauten mag, wo immer die Karte hinführt, das ist der Ort, von dem der Stab ursprünglich gekommen ist.
Ich glaube, dass sich dieser Ort, dieses Shambhala, in einem Bergfried befindet, in einem Tempel, in dem Kemal Reis und seine Männer den Schatz versteckt haben. Ich glaube, dass es ein Ort der Finsternis ist und dass man den Stab braucht, um sich Zutritt zu diesem Ort zu verschaffen. Ich glaube, dass diese Karte an einen Ort führt, der die Manifestation von Himmel und Hölle auf Erden ist, und dass der Hermesstab die Axis Mundi ist, die beide miteinander verbindet.«
Busch verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß selbst nicht, was sich am Ende dieser Karte befindet«, gab Simon zu, als er Buschs Skepsis bemerkte. »Ob es der Schwarze Mann ist oder ein Mönch, der Teufel oder Gott, es ist alles nur Spekulation. Aber irgendetwas ist da neben all dem Gold und den Schätzen, die Kemal Reis dorthin zurückgebracht hat.« Simon hielt die Fotokopie der Karte hoch und zeigte mit dem Finger auf eine der englischen Übersetzungen. »Hier heißt es, dass von seinen Männern nur einer überlebt hat, um Piri den Stab, die Briefe und die Originalkarte zu überbringen. Und was man nicht vergessen darf: Sowohl Piri als auch Kemal waren Seefahrer, Männer, die Karten von Riffen und Felsenklippen zeichneten, die man umschiffen musste, um es anderen Seefahrern zu ermöglichen, am nächsten Tag noch den Sonnenaufgang zu erleben. Diese Karte hier«, wieder zeigte Simon mit dem Finger auf die Kopie, »weist nicht den Weg zu einem Ziel, sondern zu einem Ort, von dem man sich um jeden Preis fernhalten soll.
Kemal hat seinen Neffen gewarnt, hat ihn angefleht, den Stab zu verstecken und Kangchendzönga zu meiden. Er hat ihn vor der Gefahr gewarnt, in diese versteckte Welt in den Bergen einzudringen – nicht nur, um seinen Neffen zu schützen vor dem, was sich dort befand, sondern auch alle anderen.
Und verkennt dabei eines nicht: Kemal Reis war ein Korsar, ein Pirat, ein Admiral, ein Mann, der Furcht verbreitete und sich im Angesicht einer Gefahr nicht feige versteckt hat. Wenn Shambhala der Himmel auf Erden ist, dann ist das, was sich darunter verbirgt, die Hölle auf Erden, und wenn man die Pforte zu dieser Hölle öffnen würde …«
Simons Worte blieben im Raum stehen, und es wurde totenstill im Zimmer. Vom Korridor drangen die Stimmen von Krankenschwestern herein und die Geräusche von Rolltragen, die über den Flur geschoben wurden. Drinnen hingen Michael und Busch ihren Gedanken nach und versuchten zu verarbeiten, was Simon ihnen gerade erzählt hatte.
»Michael«, sagte Simon schließlich mit einem Hauch von banger Vorahnung in der Stimme, »Venue ist ein gewalttätiger Mann. Er ist besessen von drei Dringen: von Reichtum, Macht und dem Wissen um die Geheimnisse des Jenseits. Er ist ein gefallener Priester, den die Kirche exkommuniziert hat – nicht nur wegen Mord, sondern auch, weil er den Teufel gesucht hat, weil er nach fremden Göttern gesucht hat, weil er sich am Mystizismus versucht hat. In späteren Jahren hat er ein gewaltiges Vermögen verdient, indem er das, was er in seiner kriminellen Vergangenheit gelernt hatte, auf die Geschäftswelt angewandt hat. Er hat ungeheuere Macht erlangt, wodurch er praktisch unantastbar wurde. Weder korrupte Politiker konnten ihm etwas anhaben, noch die Polizeibehörden in aller Welt, die er mit Geld und Erpressung manipuliert hat.
Aber sein Glück hat sich gewendet, und sein Imperium zerfällt. Die Kirche hat ihn aufgespürt und wartet nur darauf, ihn bloßzustellen und für die Ermordung der sieben Priester zur Verantwortung zu ziehen, die ihn seinerzeit exkommuniziert haben. Früher war Venue unbezwingbar, gut geschützt hinter seinem riesigen Vermögen, aber diesen Schutz gibt es nicht mehr.
Also hat er seine Bemühungen verstärkt, den Ort zu finden, um den es in der Piri-Reis-Karte geht. Früher wäre das eine Nebenbeschäftigung für Venue gewesen, eine zweitrangige Angelegenheit, um die Fragen zu beantworten, die ihn vor Jahren im Priesterseminar beschäftigt haben. Heute ist es seine einzige und letzte Hoffnung, seine Welt zu retten.
Ich fürchte, wenn er dieses sogenannte Shambhala erreicht, wird er dort nicht nur Reichtum finden, sondern auch eine Finsternis, die er gegen all jene einsetzen wird, die ihn ausgestoßen haben, vor allem gegen seinen Erzfeind, die Kirche.«
Michael und Busch schwiegen und ließen Simons Worte
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