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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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dem Fenster auf den Horizont im Osten, zur aufgehenden Sonne, die den Himmel in zarte Violett- und Rosatöne tauchte. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war ihm diese Tageszeit die liebste. Sie stand für einen neuen Anfang, für eine Wiederauferstehung der Welt, und sie erinnerte daran, dass nichts das Licht des neuen Tages aufhalten konnte, egal wie dunkel das Leben auch werden mochte.
    Simon war innerhalb der Mauern des Vatikans aufgewachsen. Seine Mutter, eine ehemalige Nonne, war Direktorin der Vatikanischen Archive gewesen und verantwortlich für ihre Geschichte, ihre Beziehungen, ihre Geheimnisse. Nachdem ihr früherer Ehemann sie vergewaltigt und gefoltert hatte, verlor sie den Verstand und nahm sich das Leben. Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters war Simon im Alter von sechzehn Jahren ganz allein auf der Welt gewesen.
    Eine Zeit lang diente er in der italienischen Armee und lernte alles über Waffen, Nahkampf und Militärstrategien. Nach seiner Entlassung kehrte er in den Schoß der einzigen Familie zurück, die er je gehabt hatte: zu den Freunden seiner Mutter, den Priestern und Bischöfen, die den Vatikan regierten, das kleinste Land der Welt. Sie hießen ihn mit offenen Armen willkommen und boten ihm eine Zukunft. Aufgrund seiner unlängst erworbenen Fähigkeiten und seiner überragenden Intelligenz schlugen sie ihm vor, den ehemaligen Arbeitsplatz seiner Mutter zu übernehmen und der Hüter zu werden, der nicht nur über die gewaltige Sammlung religiöser Artefakte der Kirche und deren Geschichte wachte, sondern auch ihre Geheimnisse bewahrte.
    Als das Flugzeug sich beim Landeanflug scharf auf die linke Seite legte, war Simon überwältigt, als er aus dem Fenster der Maschine hinunter auf die Stadt blickte, in der fast zwanzig Millionen Menschen lebten, auf eine Welt, die Kreuzzüge und Invasionen, Könige und Sultane überlebt hatte und eine Metropole endloser Schönheit geworden war. Zu dieser frühen Morgenstunde färbte ein leuchtendes Orange den Horizont; es bot den perfekten Kontrast zu der Silhouette aus Minaretten und Kuppeln, deren Spitzen bis in die Himmel zu reichen schienen.
    Das türkische Istanbul war der Mittelpunkt der Welt, an dem Europa und Asien im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne miteinander verschmolzen. Seit der Antike – ob als Nova Roma im Östlichen Römischen Reich, als Byzantion oder als Konstantinopel – war es die Hauptstadt einiger der bedeutendsten Reiche der Geschichte gewesen: des Römischen Reiches, des Königreiches Jerusalem, des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches. Keine andere Stadt der Erde konnte ein vergleichbar reiches und vielgestaltiges Erbe für sich in Anspruch nehmen. Istanbul war immer Dreh- und Angelpunkt einer dynamischen Kultur gewesen – eine Welt, in der mit Waren und Philosophien gehandelt wurde, mit Frauen, Sklaven und Religionen; eine Welt, in der Christen, Moslems und Juden Seite an Seite lebten und die Kunst der friedliebenden Koexistenz beherrschten, lange bevor der modernen Gesellschaft Toleranz gepredigt werden musste. Es war eine Welt der Schönheit mit atemberaubender Architektur, sowohl alter als auch neuer; ein Land voller Geheimnisse und Intrigen, Reichtum und Pracht. Istanbul war weltoffen und pulsierend, antiquiert und beschaulich. In dieser Stadt trafen Ost und West aufeinander, und doch hatte das Land in jüngster Zeit in der Weltpolitik nur die zweite Geige gespielt, weil es auf Widerstände gestoßen war, als es der Europäischen Union beitreten wollte.
    In Istanbul befanden sich einige der bedeutendsten Gotteshäuser, Moscheen von unerreichter Schönheit, deren Minarette so hoch in den Himmel ragten, dass es aussah, als berührten sie das Firmament; Kathedralen voller Anmut; Synagogen aus uralter Zeit und Paläste, deren wuchtige Festungsanlagen im Lauf der Jahrhunderte nichts an Eleganz eingebüßt hatten.
***
    Der Boeing Business Jet glitt über das asphaltierte Rollfeld des Flughafens Istanbul-Atatürk und kam in dem Bereich zum Stehen, der Privatmaschinen vorbehalten war. Michael, Busch, Simon und KC verließen die Maschine über die Gangway und tauchten ein in das Licht des frühen Morgens, atmeten durch, vertraten sich die Beine und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
    Eine junge Frau kam aus dem Privatterminal. Sie zog einen Trolley hinter sich her und lief über das Rollfeld auf den Jet zu. Ihr Haar war kastanienbraun und im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Sie trug ein

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