Der Dieb der Finsternis
Verkauf.
Wieder erfasste sie Panik. Sie brauchte Geld, schon bis zum Ende der Woche. Jeden Abend saß sie da und starrte auf das Gemälde, das über dem Bett ihrer Schwester hing, und überlegte, wie viel es wert sein mochte, doch hatte sie sich geschworen, es niemals zu verkaufen. Sie fürchtete, dass ihrer beider Leben keine Zukunft mehr hatte, wenn sie es je versuchte.
KC ging zum Piccadilly Circus und verkaufte Rist das letzte Stück, die Armbanduhr des Mannes. Dreitausend Pfund. Das reichte gerade für einen weiteren Monat.
Und als sie aus der Tür trat, stand er plötzlich da. Er war kleiner als sie, vielleicht eins siebzig groß und nur ein Strich in der Landschaft. Sein Haar war pechschwarz und perfekt geschnitten, und seine leicht gebräunte Haut betonte seine blassblauen Augen. Obwohl sein Gesicht einen auffallend kindlichen, unschuldigen Ausdruck hatte, machte er ihr Angst. Aber dann lächelte er. Es war ein herzliches Lächeln, das auch aus seinen Augen strahlte, und es vertrieb ihre Angst und ihre Bedenken.
Er nickte ihr zu. »Hi.«
Sie sah ihn an und lächelte.
»Mr. Rist ist ein anständiger Kerl. Er würde dich niemals anzeigen.«
KC wurde bang ums Herz. »Was meinst du damit?«
»Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Ich meinte damit nur, dass er dich gern hat.« Der Mann hatte einen Südstaatenakzent, der seiner Stimme einen melodischen, beruhigenden Klang verlieh.
KC war sprachlos. Dieser Mann wusste, was sie getan hatte, was sie die ganze Zeit verkauft hatte?
»Keine Angst, ich will dir nichts Böses. Ich heiße Iblis, und ich habe deine Mutter gekannt. Ich weiß, was ihr hinter euch habt. Ich weiß, dass du deine Schwester großziehst. Was du leistest, ist unglaublich.« Der Mann ging langsam die Straße hinunter. KC lief neben ihm her. »Aber zu glauben, dass du stehlen kannst, um ihr Auskommen zu sichern? Du bist fünfzehn, KC. Du begibst dich damit in eine tödliche Welt.«
KC wandte sich ab und wollte gehen. Sie wusste nicht, ob sie vor diesem Mann davonlief oder vor der Lage, in der sie sich befand.
»Warte, KC. Ich will doch nur helfen.«
KC drehte sich wieder um und blickte ihn an. Die Wärme seiner Stimme war verlockend und gab ihr ein Gefühl von Trost, das sie seit drei Monaten nicht mehr verspürt hatte. Und er hatte ein anziehendes Gesicht: Seine Haut war makellos, ohne jeden Schönheitsfehler, fast wie die eines Kindes, und das verlieh ihm einen unschuldigen Ausdruck und weckte Vertrauen. Doch seine Augen … sie hatte noch niemals so hellblaue Augen gesehen. Sie kamen ihr unnatürlich vor und machten ihr Angst.
»Und wie wollen Sie mir helfen?«, fragte KC skeptisch.
»Ich will dir etwas beibringen.«
Und das tat er. Er brachte ihr alles über Vorhänge- und Zylinderschlösser bei, über Alarmanlagen und Tresore. Er brachte ihr bei, nach welchen Kriterien man sich ein Haus aussuchte. Er brachte ihr bei, was man stahl und was nicht. Er erklärte ihr, wie die Polizei arbeitete, und führte sie in die Feinheiten der Rechtswissenschaft ein. Er zeigte ihr, wie man Diebesgut verhökerte und wie ungerecht es dabei zuging, dass gestohlene Gegenstände nur einen Bruchteil ihres eigentlichen Wertes einbrachten. Er lehrte sie, dass sie von einem gut geplanten Raubzug fünf oder zehn Jahre leben konnte, vielleicht sogar bis ans Ende ihrer Tage. Alles hing von der Planung ab. Die Ausführung war zwar von entscheidender Bedeutung, doch alles war von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn man bei der Planung nicht gründlich vorging.
Er hielt sich selbst weder für einen Gangster noch für einen Verbrecher. Sein Handwerk war für seine Begriffe eine Kunst, ein Beruf, den er studiert hatte und der bereits seit Anbeginn der Zeit existierte. Die wahre Kunst bestand darin, sich nicht erwischen zu lassen. Die Gefängnisse waren voll von den Dummköpfen, den Pechvögeln, den Verzweifelten und Gierigen. Ein Meister seines Fachs würde sich vor diesem Untergang niemals fürchten müssen, solange er sorgfältig plante und das oberste Gebot der Diebe befolgte: Traue niemals jemandem, nicht einmal deiner eigenen Familie.
KC verstand ihn. Was ihr aber ihre Menschlichkeit bewahrte, war ihre Schwester. KC liebte sie. Cindy war der einzige Mensch, dem sie je vertrauen würde.
KC und Iblis saßen in einer großen Wohnung. Auf den Tischen stapelten sich Baupläne und Zeichnungen, Bücher und anderes Recherchematerial. KC saugte alles in sich auf, verschlang das verbotene Wissen geradezu, das ihr
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