Der Dieb der Finsternis
unsere Geheimnisse – Dinge, die wir aus Scham, Stolz oder Angst lieber für uns behalten. Und manchmal bewahren wir Geheimnisse, um andere zu schützen. Um diejenigen zu schützen, die wir lieben. Also, was hat KC außer ihren Geheimnissen?«
»Was meinst du damit?«
»Gehst du schon mal aus? Mit einem Mann?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Cindy.
»Deine Karriere bedeutet dir sehr viel«, fügte Simon hinzu. »Du hast ein erfülltes Leben. Was hat KC, wenn man von dir absieht?«
»Ich weiß, was du damit sagen willst«, erwiderte Cindy. »Aber sie schien niemals irgendwelche Lebensziele zu haben.«
Simon beugte sich vor und legte die Arme auf die Tischplatte.
»Oje«, meinte Busch und rutschte mit seinem großen schweren Körper auf dem kleinen schmiedeeisernen Stuhl herum. »Jetzt geht sie ab, die Post.«
Simon blickte seinen Freund zornig an und wandte sich dann wieder Cindy zu.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.
Cindy antwortete nicht.
»Sie hat ihr Lebensziel bereits erreicht, Cindy.« Simon lächelte. »Das warst du. Dich großzuziehen, zu erleben, dass du eine Ausbildung bekommst und eine erwachsene Frau wirst, die sich in der Welt behaupten kann. Sie platzt beinahe vor Stolz, wenn sie über dich spricht. Ich bin überzeugt, wenn sie erst einmal verstanden hat, worum es in deinem neuen Job geht, wird sie auch damit prahlen.«
»Du hast sie sehr gern, nicht wahr?«, sagte Cindy und ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. »Mir war nie bewusst, dass sie einen so guten Freund hatte. Warum seid ihr nie ein Paar geworden?«
Busch lachte auf.
»Sie passt besser zu Michael.«
»Das ist der eine Grund. Der andere ist, dass Simon ein Gelübde einhalten muss.« Wieder musste Busch lachen.
Cindy blickte den großen, attraktiven Italiener an, und es dauerte einen Moment, bis sie Buschs Worte verstand und der Groschen bei ihr fiel. »Du bist Priester?«
10.
M ichael und KC schritten durch den gewaltigen Marmorrundbogen, der in die Eingangshalle des Four Seasons führte, und unterhielten sich dabei angeregt. Das Fünfsternehotel befand sich in unmittelbarer Nähe der Blauen Moschee und der Hagia Sophia, nur zwei Straßenzüge vom Topkapi-Palast entfernt, mitten im Stadtviertel Sultanahmet, dem Herzen Istanbuls. Das einhundert Jahre alte Gebäude, das früher anderen Zwecken gedient hatte, war modernisiert worden; die neoklassische türkische Fassade jedoch hatte man erhalten. Der dreistöckige, goldgelbe Bau hatte einen kunstvoll gestalteten, parkähnlichen Innenhof und ein Ambiente, in dem sich die moderne Welt mit dem historischen Flair des Mittleren Ostens vermischte, aus einer Zeit, als Istanbul noch die bedeutendste Millionenstadt im Zentrum der Welt gewesen war.
Als Michael sich in der großen Marmorhalle umsah, zu den hohen Decken hinaufschaute und in die kleinen Vorräume blickte, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben. An der Dekoration lag es nicht, weder an den Rattan- und Korbmöbeln noch an den Wüstenfarben oder den Perserteppichen. Es lag auch nicht an der offenen, typisch östlichen Bauweise des Gebäudes oder an den internationalen Gästen, die umherschlenderten. Es war das Gebäude selbst. Es lag etwas in der Luft, irgendetwas Vertrautes.
Michael und KC betraten den altertümlichen Fahrstuhl, und der Gepäckträger schloss hinter ihnen das Gittertor. Sie fuhren hinauf in den vierten Stock und unterhielten sich dabei über Sport, das Reisen und ihrer beider Sehnsucht, eines Tages mit den Stieren durch Pamplona zu rennen und im Sommer in den Schweizer Alpen zu klettern. Michael erlebte die verschiedensten Gefühle, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Einerseits übte KC eine nahezu magische Anziehungskraft auf ihn aus, andererseits machte sie ihn wütend; sie betörte ihn, machte ihn zugleich aber auch argwöhnisch. Der Zorn, der sich in ihm ausgebreitet hatte, als sie ihm gestand, eine Diebin zu sein, verflüchtigte sich allmählich, und Angst trat an seine Stelle. Angst, dass sie nicht schaffte, was sie sich vorgenommen hatte, und dass sie auf Nimmerwiedersehen in den Eingeweiden des Topkapi-Palasts verschwand.
Sie traten aus dem Fahrstuhl und hörten Busch lachen, folgten seiner Stimme und gingen den Flur hinunter zu einer offenen Tür. Die Präsidentensuite war einhundertzwanzig Quadratmeter groß, und auf den weißen Marmorböden lagen exquisite weinrote Teppiche. Die Räumlichkeiten mit den hohen Decken waren die
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