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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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» Ernsthaft, du musst mehr Zeit mir ihr verbringen, Potter. « Er rempelte mich von der Seite an. » Du wirst sie mögen. «
    » Ach, lass gut sein. « Ich dachte an ihr affektiertes Getue, wenn ich dabei war– an ihre gemeine Art, an den falschen Stellen zu lachen und mich ständig abzukommandieren, Bier aus dem Kühlschrank zu holen.
    » Nein! Sie mag dich! Wirklich! Ich meine, sie sieht dich wie kleinen Bruder. Das hat sie gesagt. «
    » Mit mir spricht sie kein Wort. «
    » Weil du nicht mit ihr redest. «
    » Bumst ihr miteinander? «
    Boris machte ein ungeduldiges Geräusch, den Laut, den er von sich gab, wenn etwas nicht so lief, wie er wollte.
    » Schmutzige Fantasie « , sagte er, strich eine Strähne aus den Augen und dann: » Was? Was denkst du? Soll ich dir eine Karte malen? «
    » Eine Karte zeichnen. «
    » Hä? «
    » So heißt das. › Soll ich dir eine Karte zeichnen. ‹«
    Boris verdrehte die Augen. Er wedelte wild mit den Händen und fing wieder davon an, wie intelligent Kotku sei, wie » unglaublich klug « und weise, wie viel Leben sie schon gelebt hätte und dass es ungerecht von mir sei, sie zu verurteilen und auf sie herabzublicken, ohne mir die Mühe zu machen, sie kennenzulernen. Doch während ich so dasaß, nur halb zuhörte und nebenbei einen alten Film noir ( Mord in der Hochzeitsnacht, Dana Andrews) im Fernsehen guckte, dachte ich unwillkürlich, dass er Kotku in einem Kurs getroffen hatte, der im Grunde ein Förderkurs in Gemeinschaftskunde war, gedacht für Schüler, die (selbst an unserer extrem unanspruchsvollen Schule) nicht intelligent genug waren, ohne zusätzliche Hilfe einen Abschluss zu schaffen. Boris– gut in Mathematik, ohne etwas dafür zu tun, und besser in Sprachen als jeder andere, den ich je getroffen hatte– war als Ausländer gezwungen worden, den Kurs Gemeinschaftskunde für Idioten zu belegen: eine Vorschrift der Schule, die ihn ärgerte. ( » Denn wozu? Als ob ich irgendwann wählen würde für Kongress? « ) Aber Kotku– achtzehn! In Clark County geboren und aufgewachsen!– hatte keine solche Entschuldigung.
    Immer wieder ertappte ich mich bei hässlichen Gedanken dieser Art, die ich nach Kräften abzuschütteln versuchte. Was kümmerte es mich? Ja, Kotku war eine Schlampe, und ja, sie war zu dumm, um den normalen Gemeinschaftskundekurs zu bestehen, sie trug billige Reifenohrringe aus dem Drugstore, die sich ständig irgendwo verhakten, und ja, obwohl sie nur siebenunddreißig Kilo oder so wog, machte sie mir trotzdem eine Heidenangst, als könnte sie mich mit ihren spitzen Stiefeln tot treten, wenn sie wütend genug wurde. ( » Sie ist kleiner Fighta-Nigga « , hatte Boris selbst einmal geprahlt und irgendwelche Gang-Handzeichen gemacht oder das, was er dafür hielt, um mir dann eine Geschichte zu erzählen, wie Kotku irgendeinem Mädchen ein blutiges Büschel Haare ausgerissen hatte– denn das war noch so eine Sache mit Kotku, sie geriet dauernd in gefährliche Streitereien mit anderen Mädchen, meistens White Trash wie sie selber, aber hin und wieder auch echte Gangsta-Girls, Schwarze oder Latinas.) Doch wen kümmerte es, was für ein Scheißmädchen Boris mochte? Waren wir nicht immer noch Freunde? Beste Freunde? Praktisch Brüder?
    Andererseits: Im Grunde gab es nicht direkt ein Wort für Boris und mich. Bis Kotku auftauchte, hatte ich auch nicht allzu viel darüber nachgedacht. Es ging bloß um schläfrige, klimatisierte Nachmittage, faul und betrunken, die Jalousien gegen das grelle Licht heruntergelassen, leere Zuckertütchen und getrocknete Orangenschalen auf dem Teppich verstreut, » Dear Prudence « vom White Album (das Boris verehrte) oder wieder und wieder derselbe düstere Radiohead-Song:
    For a minute there
    I lost myself, I lost myself…
    Der Kick von dem Klebstoff, den wir schnüffelten, kam mit einem tiefen mechanischen Dröhnen wie das Rauschen von Propellern im Wind: Motoren an! Wir sanken zurück aufs Bett in die Dunkelheit wie Fallschirmspringer, die rückwärts aus einem Flugzeug fielen, obwohl man– so berauscht, so weit weg– mit der Tüte über dem Gesicht aufpassen musste, sonst konnte man sich blutige Klebstoffknubbel aus Haaren und Nase ziehen, wenn man wieder zu sich kam. Erschöpfter Schlaf, Rücken an Rücken, in schmutzigen Laken, die nach Zigarettenasche und Hund rochen, Poptschik, den Bauch nach oben und schnarchend, in der Luft das unterschwellige Flüstern der Klimaanlage, wenn man genau genug hinhörte. Ganze Monate

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