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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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verstrichen, in denen der Wind nie aufhörte, aufgewehter Sand prasselte gegen die Fensterscheiben, die Oberfläche des Pools sah faltig und düster aus. Morgens starker Tee und geklaute Schokolade. Boris, der an einem Büschel meiner Haare riss und mir in die Rippen trat. Aufwachen, Potter. Aus den Federn.
    Ich redete mir ein, dass ich ihn nicht vermisste, doch das stimmte nicht. Ich bekiffte mich alleine, guckte den Porno- und Playboy -Kanal, las Die Früchte des Zorns und Das Haus mit den sieben Giebeln, die sich, so kam es mir vor, ein totes Rennen um den Titel des langweiligsten Buches aller Zeiten lieferten, und daddelte gefühlt Tausende von Stunden– genug Zeit, um Dänisch oder Gitarre zu lernen, wenn ich es versucht hätte– mit einem ramponierten Skateboard, das Boris und ich in einem der zwangsversteigerten Häuser am Ende des Blocks gefunden hatten, auf der Straße herum. Ich ging mit Hadley zu Partys des Schwimmteams– ohne Alkohol, mit Eltern– und an Wochenenden auf Partys von Kids, deren Eltern nicht da waren und die ich kaum kannte, Xanax-Tabletten und Jägermeister, und nachts um zwei so zugedröhnt in dem zischenden Bus, dass ich mich am Vordersitz festhalten musste, um nicht in den Gang zu fallen. Wenn ich mich nach der Schule langweilte, war es nie ein Problem, mit jemandem aus der großen Schar der teilnahmslosen Kiffer abzuhängen, die zwischen dem Del Taco und den Automatenhallen für Jugendliche auf dem Strip herumlungerten.
    Trotzdem war ich einsam. Es war Boris, den ich vermisste, sein ganzes impulsives Chaos: düster, unbekümmert, heißblütig und erschreckend gedankenlos. Boris, blass und teigig, mit seinen geklauten Äpfeln und seinen russischen Romanen, abgekauten Fingernägeln und über den Boden schleifenden Schnürsenkeln. Boris– angehender Alkoholiker und in vier Sprachen fließend des Fluchens mächtig–, der mir Essen vom Teller klaute, wenn ihm danach war, und betrunken auf dem Fußboden eindöste, mit hochrotem Gesicht, als hätte man ihn geohrfeigt. Selbst wenn er, ohne zu fragen, etwas mitnahm, was er nur zu häufig tat– ständig verschwanden kleine Dinge, DVD s und Lehrmittel, aus meinem Spind, und mehr als einmal hatte ich ihn dabei ertappt, wie er meine Taschen nach Geld durchsuchte–, bedeutete ihm sein eigener Besitz so wenig, dass es eigentlich gar kein Stehlen war. Immer wenn er selbst zu Geld kam, teilte er es zur Hälfte mit mir, und alles, was ihm gehörte, gab er mir bereitwillig, wenn ich danach fragte (und manchmal auch, wenn nicht, wie als Mr. Pavlikovskys goldenes Feuerzeug, das ich beiläufig bewundert hatte, im Außenfach meines Rucksacks auftauchte).
    Das Komische daran war: Ich hatte mir Sorgen gemacht, Boris könnte– wenn überhaupt– derjenige sein, der ein bisschen zu anhänglich war, wenn anhänglich das richtige Wort ist. Als er sich zum ersten Mal im Bett umgedreht und einen Arm über meine Hüfte gestreckt hatte, lag ich einen Moment lang im Halbschlaf da, wusste nicht, was ich machen sollte, und starrte auf meine alten Socken auf dem Fußboden, leere Bierflaschen, meine Taschenbuchausgabe von Die rote Tapferkeitsmedaille. Schließlich täuschte ich– verlegen– ein Gähnen vor und versuchte, mich wegzudrehen, doch er zog mich seufzend näher an sich, schläfrig und kuschelnd.
    Pst, Potter, flüsterte er in meinen Nacken. Bin nur ich.
    Es war seltsam. War es seltsam? Ja, und auch wieder nicht. Ich war kurz danach wieder eingeschlafen, eingelullt von seinem bitteren, bierigen, ungewaschenen Geruch und seinem entspannten Atem in meinem Ohr. Mir war bewusst, dass ich es nicht erklären konnte, ohne dass es nach mehr klang, als es war. In Nächten, in denen ich mit einem würgenden Angstgefühl hochschreckte, war er da, fing mich auf, zog mich zurück unter seine Decke und murmelte irgendeinen Unsinn auf Polnisch, seine Stimme heiser und fremd vom Schlaf. Wir dösten im Arm des anderen ein und hörten Musik von meinem iPod (Thelonious Monk, Velvet Underground, Musik, die meine Mutter gemocht hatte) und wachten manchmal aneinandergeklammert auf wie Schiffbrüchige oder viel jüngere Kinder.
    Und doch (das war der verschwommene Teil, das, was mich beunruhigte) hatte es auch andere Nächte gegeben, ungleich verwirrender und verdrehter, halbnackte Handgemenge, blasses Licht, das aus dem Bad hereinfiel, alles von einem Glanz überzogen und ohne meine Brille unscharf: Hände am Körper des anderen, grob und schnell, umgetretene Bierflaschen,

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