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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zittrig, dass der Kaffee aus der Tasse schwappte, wenn er sie an den Mund hob. Wachsam beäugte er mich, wenn ich hereinkam, und seine Nasenflügel blähten sich, wenn ich mit dem Besteck oder meiner Müslischale zu viel Lärm machte.
    Von diesem Unbehagen einmal am Tag mal abgesehen sah ich nicht viel von ihm. Er aß nicht mit uns und kam nicht mit zu Schulveranstaltungen. Er spielte nicht mit mir und sprach auch kaum mit mir, wenn er zu Hause war; genau genommen war er überhaupt selten zu Hause, bevor es Schlafenszeit für mich war, und an manchen Tagen– an Zahltagen vor allem, also jeden zweiten Freitag– kam er erst um drei oder vier Uhr morgens hereingepoltert. Dann schlug er die Tür zu, ließ seine Aktentasche fallen und rumpelte und lärmte so unberechenbar herum, dass ich manchmal entsetzt aus dem Schlaf hochschrak, zu den im Dunkeln leuchtenden Planetariumssternen an meiner Zimmerdecke hinaufstarrte und mich fragte, ob ein Mörder in die Wohnung eingedrungen war. Zum Glück verlangsamten seine Schritte sich, wenn er betrunken war, zu einem langsamen, stampfenden Rhythmus– so bewegte sich Frankensteins Ungeheuer, dachte ich immer: bedächtig trapsend und mit absurd langen Pausen zwischen den Schritten–, und sobald mir klar wurde, dass nur er es war, der da draußen im Dunkeln umherpolterte, und nicht irgendein Serienmörder oder Psychopath, versank ich wieder in unruhigen Halbschlaf. Am Tag darauf, am Samstag, brachten meine Mutter und ich es dann irgendwie zuwege, die Wohnung zu verlassen, bevor er aus seinem schweißnassen, wirren Schlaf auf dem Sofa erwachte. Sonst schlichen wir den ganzen Tag herum und wagten nicht, eine Tür zu laut zu schließen oder ihn auf andere Weise zu stören, wenn er mit versteinertem Gesicht vor dem Fernseher saß, ein chinesisches Bier vom Take-away vor sich und einen glasigen Ausdruck im Blick, und bei abgeschaltetem Ton die Nachrichten oder eine Sportsendung sah.
    Infolgedessen waren meine Mutter und ich nicht allzu sehr beunruhigt gewesen, als wir eines Samstags morgens aufwachten und feststellten, dass er gar nicht nach Hause gekommen war. Erst am Sonntag fingen wir an, uns Gedanken zu machen, aber selbst da gerieten wir noch nicht in Sorge, wie es einem normalerweise gehen würde; die College-Football-Saison hatte begonnen, und sehr wahrscheinlich hatte er Geld auf eins der Spiele gesetzt. Wir gingen davon aus, dass er den Bus nach Atlantic City genommen hatte, ohne uns etwas zu sagen. Erst einen Tag später, als seine Sekretärin Loretta anrief, weil er nicht im Büro erschienen war, sah es allmählich so aus, als wäre da etwas nicht in Ordnung. Meine Mutter befürchtete, er wäre ausgeraubt oder umgebracht worden, als er betrunken aus einer Bar kam, und rief die Polizei an, und ein paar Tage voller Anspannung verbrachten wir damit, auf einen Anruf oder ein Klopfen an der Tür zu warten. Gegen Ende der Woche kam dann eine knappe Mitteilung von meinem Dad (abgestempelt in Newark, New Jersey), in der er uns mit nervöser Krakelschrift informierte, er werde an einem ungenannten Ort » ein neues Leben anfangen « . Ich weiß noch, dass ich über die Formulierung » neues Leben « so nachdachte, als könnte sie tatsächlich einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort enthalten, denn nachdem ich meine Mutter ungefähr eine Woche lang genervt und gelöchert hatte, war sie schließlich bereit gewesen, mir den Brief zu zeigen ( » na schön « , sagte sie resigniert, während sie die Schreibtischschublade öffnete und den Brief herausnahm, » ich weiß auch nicht, was ich dir seiner Meinung nach erzählen soll; also kannst du es auch ruhig von ihm selbst erfahren « ). Das Hotel-Briefpapier stammte aus einem Doubletree Inn in der Nähe des Flughafens. Ich hatte wertvolle Hinweise erwartet, aber stattdessen war ich nur verblüfft über die extreme Kürze (vier oder fünf Zeilen) und die hastige, achtlose » Geht zum Teufel « -Kritzelei, die aussah wie auf einem Einkaufszettel.
    In vieler Hinsicht war es eine Erleichterung, meinen Vater los zu sein. Ich vermisste ihn jedenfalls nicht besonders, und meine Mutter tat es anscheinend auch nicht, obwohl es traurig war, als sie unsere Haushälterin Cinzia entlassen musste, weil wir sie uns nicht mehr leisten konnten. (Cinzia hatte geweint und angeboten, kostenlos bei uns zu bleiben und zu arbeiten, aber meine Mutter hatte bei einem Ehepaar mit einem Baby in unserem Haus einen Teilzeitjob für sie gefunden, und ungefähr einmal in

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