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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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der Woche kam sie zu meiner Mutter und trank eine Tasse Kaffee mit ihr, immer noch in dem Kittel, den sie beim Putzen über ihrer Kleidung trug.) Ohne viel Trara wurde das Foto eines jüngeren, sonnengebräunten Dad beim Skilaufen von der Wand genommen und durch ein Bild von meiner Mutter und mir beim Eislaufen im Central Park ersetzt. Abends saß meine Mutter lange mit dem Taschenrechner am Tisch und ging die Rechnungen durch. Die Wohnung unterlag zwar der Mietpreisregulierung, aber ohne das Gehalt meines Dads zurechtzukommen war von Monat zu Monat immer wieder ein Abenteuer, denn wie das neue Leben, das er sich anderswo geschaffen hatte, auch immer aussehen mochte, Unterhaltszahlungen gehörten nicht dazu. Im Grunde waren wir aber ganz zufrieden damit, unsere Wäsche unten im Keller selbst zu waschen, in die Vormittagsvorstellung zu gehen, statt uns die Filme abends zum vollen Preis anzusehen, Backwaren vom Vortag und billige Gerichte aus dem chinesischen Take-away zu essen (Nudeln und Fu-Yung-Omelette) und unser Münzgeld für den Bus zusammenzukratzen. Aber als ich an dem Tag vom Museum nach Hause stapfte– frierend, nass und mit Kopfschmerzen, von denen mir die Zähne knirschten–, wurde mir bewusst, dass es nach dem Verschwinden meines Dads niemanden mehr auf der Welt gab, der sich große Sorgen um meine Mutter oder mich machen würde. Niemand saß irgendwo herum und fragte sich, wo wir den ganzen Vormittag steckten und warum man noch nichts von uns gehört hatte. Wo immer er sein mochte, da in seinem neuen Leben (in den Tropen oder in der Prärie, in einem winzigen Skiort oder in einer bedeutenden amerikanischen Stadt), er würde auf jeden Fall wie gebannt vor dem Fernseher hocken, und es war leicht vorstellbar, dass er sogar ein bisschen hektisch und aufgedreht zusah, wie er es manchmal bei bedeutenden Nachrichten tat, die absolut nichts mit ihm zu tun hatten, bei Hurrikans und Brückeneinstürzen in weit entfernten Staaten. Aber würde er so stark beunruhigt sein, dass er anrief und sich nach uns erkundigte? Wahrscheinlich nicht– ebenso wenig, wie er in seiner alten Firma anrufen würde, um zu hören, was los war, auch wenn er jetzt ganz sicher an seine Exkollegen in Midtown dachte und sich fragte, wie es all den Erbsenzählern und Bleistiftschubsern (wie er sie immer genannt hatte) in 101Park Avenue jetzt wohl gehen mochte. Bekamen die Sekretärinnen Angst, sammelten sie die Bilder von ihren Schreibtischen ein, zogen ihre flachen Schuhe an und gingen nach Hause? Oder entwickelte sich so etwas wie eine gedämpfte Party im 14.Stock, wo die Leute sich Sandwiches bringen ließen und sich vor dem Fernseher im Konferenzzimmer versammelten?
    Der Heimweg dauerte ewig, aber ich erinnere mich an wenig außer an eine gewisse graue, kalte, regenverhangene Stimmung auf der Madison Avenue– dümpelnde Schirme, auf dem Gehweg der schweigende Strom der Menschen in Richtung Downtown, das Gefühl einer dicht zusammengedrängten Anonymität wie auf alten Schwarzweißfotos von Bankenzusammenbrüchen und hungrigen Menschenschlangen aus den 1930er Jahren, die ich gesehen hatte. Meine Kopfschmerzen und der Regen schnürten die Welt zu einem so engen, kranken Kreis zusammen, dass ich kaum mehr sah als die gekrümmten Rücken der Leute vor mir auf dem Gehweg. Ja, mein Kopf tat so weh, dass ich kaum sehen konnte, wohin ich ging, und zweimal wurde ich fast von einem Auto angefahren, als ich auf den Fußgängerüberweg hinaustrat, ohne auf die Ampel zu achten. Niemand schien genau zu wissen, was passiert war, aber ich hörte, wie aus dem Radio eines parkenden Taxis das Wort » Nordkorea « plärrte und wie zwei Passanten » Iran « und » al-Qaida « murmelten. Ein dürrer Schwarzer mit Dreadlocks– nass bis auf die Knochen– marschierte vor dem Whitney Museum auf und ab, stieß die Fäuste in die Luft und schrie, ohne sich speziell an jemanden zu wenden: » Schnall dich an, Manhattan! Osama bin Laden rockt uns wiede r ! «
    Ich fühlte mich schwach und hätte mich gern hingesetzt, aber irgendwie humpelte ich weiter mit abgehackten Schritten wie ein ramponiertes Spielzeug. Polizisten gestikulierten, sie pfiffen und winkten. Wasser rann mir von der Nase. Immer wieder, während ich mir den Regen aus den Augen blinzelte, ging mir der Gedanke durch den Kopf: Ich musste nach Hause zu meiner Mutter, so schnell es ging. Sie würde aufgeregt in der Wohnung auf mich warten, sie würde sich die Haare raufen vor lauter Sorgen und sich

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