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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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verfluchen, weil sie mir das Handy weggenommen hatte. Alle hatten Probleme mit dem Empfang, und an den wenigen Münztelefonen an der Straße standen überall zehn, zwanzig Leute Schlange. Mutter, dachte ich, Mutter, und ich versuchte, ihr die telepathische Nachricht zu schicken, dass ich noch lebte. Sie sollte wissen, dass es mir gut ging, aber ich erinnere mich, dass ich mir gleichzeitig sagte, es sei völlig in Ordnung, langsam zu gehen, statt zu rennen: Ich wollte auf dem Heimweg nicht ohnmächtig werden. Was für ein Glück, dass sie nur ein paar Augenblicke vorher weggegangen war. Sie hatte mich geradewegs ins Zentrum der Explosion geschickt, und jetzt glaubte sie sicher, ich sei tot.
    Und bei dem Gedanken an das Mädchen, das mir das Leben gerettet hatte, brannten mir die Augen. Pippa! Ein merkwürdig trockener Name für einen rostfarbenen, durchtriebenen kleinen Rotschopf. Er passte zu ihr. Immer wenn ich daran dachte, wie sie ihre Augen auf mich gerichtet hatte, wurde mir schwindlig bei der Vorstellung, dass sie– eine Wildfremde– mich davor bewahrt hatte, aus der Ausstellung in den schwarzen Blitz des Postkartenshops zu gehen: Nada, das Ende von allem. Würde ich ihr je sagen können, dass sie mir das Leben gerettet hatte? Was den alten Mann anging: Die Feuerwehr und die Rettungshelfer waren wenige Minuten, nachdem ich herausgekommen war, in das Gebäude gestürmt, und ich hoffte immer noch, dass jemand es geschafft hatte, zu ihm nach hinten zu kommen und ihn zu retten. Die Tür war hochgestemmt, und sie wussten, dass er da war. Ob es ihm gut ging? Ob ich einen von den beiden je wiedersehen würde?
    Als ich endlich am Haus ankam, war ich bis auf die Knochen durchgefroren und taumelte wie ein angeschlagener Boxer. Das Wasser tropfte von meinen nassen Sachen und schlängelte sich in einer gewundenen Spur hinter mir auf dem Boden des Hausflurs.
    Nach den Menschenmassen auf der Straße war die Atmosphäre der Verlassenheit verstörend. Obwohl im Postzimmer der tragbare Fernseher lief und ich irgendwo im Gebäude knisternde Walkie-Talkies hören konnte, war doch von Goldie oder Carlos oder José oder sonst einem der normalerweise anwesenden Jungs nichts zu sehen.
    Weiter hinten leuchtete der Kasten des Aufzugs leer und abwartend wie ein Bühnenschrank in einer Zaubernummer. Das Getriebe rastete erbebend ein, und nacheinander glitten die perlglänzenden alten Art-déco-Ziffern vorüber, als es ächzend in den siebten Stock hinaufging. Als ich in meinen eigenen, tristen Flur hinaustrat, war ich von Erleichterung überwältigt– die mausbraune Wandfarbe, der stickige Geruch von Teppichreiniger, das alles war da.
    Der Schlüssel drehte sich geräuschvoll im Schloss. » Hallo? « , rief ich und trat ins Halbdunkel der Wohnung. Die Jalousien waren geschlossen, und alles war still.
    In der Stille brummte der Kühlschrank. O Gott, dachte ich, und ein schrecklicher Ruck durchfuhr mich, ist sie noch nicht zu Hause?
    » Mutter? « , rief ich noch einmal. Mir wurde rasch bang ums Herz, und ich ging schnell durch die Diele und blieb verwirrt mitten im Wohnzimmer stehen.
    Ihr Schlüssel hing nicht am Haken neben der Tür, ihre Tasche lag nicht auf dem Tisch. Meine nassen Turnschuhe schmatzten in der Stille, als ich weiter in die Küche ging– keine besondere Küche, nur eine Kochnische mit einem zweiflammigen Herd und einem Fenster zum Lichtschacht. Da stand ihre Kaffeetasse, grünes Glas vom Flohmarkt mit Lippenstift am Rand.
    Ich starrte die ungespülte Tasse mit einem Fingerbreit kaltem Kaffee an und überlegte, was ich tun sollte. In meinen Ohren klang und rauschte es, und mein Kopf tat so weh, dass ich kaum denken konnte. Schwarze Wellen rollten an den Rand meines Gesichtsfelds. Ich war so darauf fixiert gewesen, wie viele Sorgen sie sich machen würde und dass ich rasch nach Hause gehen musste, um ihr zu sagen, bei mir sei alles in Ordnung, dass mir nie in den Sinn gekommen war, sie könnte nicht zu Hause sein.
    Ich zuckte bei jedem Schritt zusammen, als ich durch die Diele zum Schlafzimmer meiner Eltern ging. Im Wesentlichen war es seit dem Weggang meines Vaters unverändert geblieben, bis auf ein größeres Durcheinander, und es sah weiblicher aus, nachdem sie das Zimmer allein in Besitz genommen hatte. Der Anrufbeantworter auf dem Tisch neben dem ungemachten, zerwühlten Bett war dunkel. Keine Nachricht.
    Ich stand halb schwindelig vor Schmerz in der Tür und versuchte, mich zu konzentrieren. Der Ablauf dieses

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