Der Distelfink
Tages schoss mit einem schrillen Misston durch mich hindurch– als hätte ich eine viel zu lange Autofahrt hinter mir.
Eins nach dem andern. Ich musste mein Telefon finden und sehen, ob ich neue Nachrichten hatte. Nur, ich wusste nicht, wo mein Telefon war. Sie hatte es mir weggenommen, nachdem ich von der Schule suspendiert worden war; am Abend zuvor, als sie in der Dusche war, hatte ich versucht, es zu finden, indem ich meine Nummer anrief, aber anscheinend hatte sie es ausgeschaltet.
Ich erinnere mich, dass ich die Hände in die obere Schublade ihrer Kommode stieß und ein Gewirr von Tüchern auseinanderriss: Seide und Samt, indische Stickereien.
Dann zerrte ich unter ungeheuren Anstrengungen (obwohl sie nicht sehr schwer war) die Bank vom Fußende ihres Bettes herüber und stieg hinauf, um oben auf den Schrank zu schauen. Danach saß ich halb betäubt auf dem Teppich, lehnte die Wange an die Bank und hatte ein hässliches weißes Rauschen in den Ohren.
Etwas stimmte hier nicht. Ich weiß, dass ich den Kopf hob und jäh davon überzeugt war, dass Gas aus dem Küchenherd entwich und mich vergiftete. Aber ich roch gar kein Gas.
Vielleicht bin ich in das kleine Bad neben ihrem Schlafzimmer gegangen und habe im Medizinschränkchen nach Aspirin gesucht, nach irgendetwas gegen meine Kopfschmerzen– ich weiß es nicht. Sicher weiß ich nur, ich war irgendwann in meinem Zimmer, ohne zu wissen, wie ich hingekommen war, und stemmte mich mit einer Hand gegen die Wand neben meinem Bett, weil ich dachte, ich müsse mich übergeben. Dann wurde alles so wirr, dass ich keinen klaren Bericht davon geben kann, bis ich mich desorientiert auf dem Wohnzimmersofa aufrichtete, weil ich etwas hörte, das wie das Öffnen einer Tür klang.
Aber es war nicht unsere Wohnungstür, sondern nur die eines Nachbarn am Flur. Im Zimmer war es dunkel, und von der Straße her hörte ich den nachmittäglichen Berufsverkehr. Im Zwielicht blieb mir das Herz für ein, zwei Augenblicke stehen, und ich war ganz still, während die Geräusche sich sortierten und die vertrauten Konturen der Tischlampe und der Lyra-förmigen Stuhllehnen vor dem Dämmerlicht des Fensters sichtbar wurden. » Mom? « , sagte ich, und das Knistern der Panik in meiner Stimme war unüberhörbar.
Ich war in meinen sandigen, nassen Sachen eingeschlafen; auch das Sofa war feucht, und da, wo ich gelegen hatte, war eine klamme, körperförmige Mulde entstanden. Ein kalter Wind ließ die Jalousien rasseln; meine Mutter hatte am Morgen ein Fenster halb offen gelassen.
Die Uhr zeigte 18:47.Meine Angst wurde größer, und steifbeinig ging ich in der Wohnung umher und knipste alle Lampen an, sogar die Deckenlampe im Wohnzimmer, die wir normalerweise nie benutzten, weil ihr Licht so hart und grell war.
Als ich in der Schlafzimmertür meiner Mutter stand, sah ich ein rotes Licht im Dunkeln blinken. Eine Woge von köstlicher Erleichterung flutete über mich hinweg. Ich rannte um das Bett herum, tastete fummelnd nach dem Knopf am Anrufbeantworter und erkannte erst nach mehreren Sekunden, dass die Stimme nicht meiner Mutter gehörte, sondern einer Frau, mit der sie zusammenarbeitete. Sie klang unerklärlich fröhlich. » Hi, Audrey, Pru hier, wollte mich nur mal melden. Verrückter Tag, was? Hör mal, die Korrekturfahnen für Pareja sind da, und wir müssen uns unterhalten, aber der Termin ist verschoben, also keine Sorge, vorläufig jedenfalls nicht. Hoffe, du kommst zurecht, Schätzchen, melde dich, wenn du kannst. «
Ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte den Apparat immer noch an, als die Nachricht längst mit einem Piepton geendet hatte. Dann hob ich eine Ecke der Jalousie hoch und spähte hinaus in den Verkehr.
Um diese Zeit kamen die Leute nach Hause. Hupen tönten leise über die Straße da unten. Ich hatte immer noch rasende Kopfschmerzen und das (damals neue, inzwischen nur allzu vertraute) Gefühl, mit einem scheußlichen Kater aufzuwachen und wichtige Dinge vergessen und unerledigt hinterlassen zu haben.
Ich ging zurück in ihr Schlafzimmer und tippte mit zitternden Händen die Nummer ihres Mobiltelefons ein, so hastig, dass ich mich vertat und noch einmal von vorn anfangen musste. Aber sie meldete sich nicht; die Mobilbox schaltete sich ein. Ich hinterließ eine Nachricht ( Mom, ich bin’s, ich mache mir Sorgen, wo bist du? ), und dann setzte ich mich auf ihre Bettkante und legte den Kopf in die Hände.
Kochgerüche wehten jetzt von den unteren Stockwerken
Weitere Kostenlose Bücher