Der Distelfink
dem schwarzen Rauch im regnerischen Himmel über der Fifth Avenue, als landeten gerade die Marsmenschen.
Sirenen. Weiße Rauchwolken, die aus den Luftschächten der U-Bahn quollen. Ein Obdachloser, gehüllt in eine schmutzige Wolldecke, wanderte hin und her, eifrig und verwirrt zugleich. Ich sah mich hoffnungsvoll im Gedränge nach meiner Mutter um und rechnete jeden Augenblick damit, sie zu sehen. Eine kurze Zeit lang versuchte ich, stromaufwärts gegen die von den Polizisten vorangetriebene Menge zu schwimmen (erhob mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um etwas zu sehen), bis ich begriff, dass es hoffnungslos war, sie dort oben im strömenden Regen mitten in der Meute zu suchen. Bestimmt ist sie zu Hause, dachte ich. Zu Hause war der vereinbarte Treffpunkt, zu Hause, das war die Absprache für den Notfall, und sie musste ja auch begriffen haben, wie sinnlos es war, in diesem Gedränge nach mir zu suchen. Trotzdem versetzte mir diese kleinliche, irrationale Enttäuschung einen Stich– und als ich mich auf den Heimweg machte (hämmernde Kopfschmerzen ließen mich alles doppelt sehen), blickte ich mich weiter nach ihr um, immer in der Hoffnung, sie zwischen den anonymen, konzentrierten Gesichtern zu entdecken. Sie hatte es nach draußen geschafft, das war das Entscheidende. Sie war mehrere Räume weit vom schlimmsten Bereich der Explosion entfernt und nicht unter den Leichen gewesen. Aber was immer wir vorher verabredet hatten, so einleuchtend es auch sein mochte, irgendwie konnte ich doch nicht glauben, dass sie das Museum ohne mich verlassen hätte.
KAPITEL 2
Die Anatomiestunde
I
Als Kind, mit vier oder fünf Jahren, war meine größte Angst die, dass meine Mutter von der Arbeit nicht nach Hause kommen könnte. Addition und Subtraktion waren hauptsächlich insofern nützlich, als sie mir halfen, sie auf ihren Wegen zu verfolgen (wie viele Minuten, bis sie das Büro verließ? Wie viele Minuten für den Weg vom Büro zur U-Bahn?), und schon bevor ich zählen gelernt hatte, war ich davon besessen, die Uhr lesen zu lernen: Verzweifelt studierte ich den okkulten, mit Buntstiften auf den Pappteller gemalten Kreis, der mir, wenn ich ihn erst gemeistert hätte, das Muster ihres Kommens und Gehens erschließen würde. Meistens kam sie genau so nach Hause, wie sie es angekündigt hatte. Wenn sie sich um zehn Minuten verspätete, wurde ich bereits unruhig; kam sie noch später, saß ich auf dem Boden vor der Wohnungstür wie ein kleiner Hund, der zu lange allein gelassen worden war, und spitzte die Ohren, um das Rumpeln des Aufzugs zu hören, wenn er zu unserem Stockwerk heraufkam.
Als ich auf der Grundschule war, hörte ich in den Nachrichten auf Channel7 fast jeden Tag Dinge, die mir Sorgen bereiteten. Was, wenn irgendein Penner in einer schmutzigen Armeejacke meine Mutter auf die Gleise schubste, während sie auf die U-Bahn-Linie6 wartete? Oder sie in einen dunklen Hauseingang drängte und erstach, um ihr die Handtasche zu klauen? Oder wenn sie ihren Föhn in die Badewanne fallen ließ oder von einem Radfahrer vor ein Auto gestoßen wurde oder beim Zahnarzt eine falsche Medizin bekam und starb, wie es der Mutter eines Klassenkameraden passiert war?
Der Gedanke daran, dass meiner Mutter etwas zustoßen könnte, war besonders beängstigend, weil mein Dad so unzuverlässig war. Unzuverlässig ist vermutlich eine diplomatische Beschreibung. Selbst wenn er guter Stimmung war, kam es vor, dass er beispielsweise seinen Gehaltsscheck verlor oder bei offener Wohnungstür einschlief, denn er trank. Und wenn er schlecht gestimmt war– was oft vorkam–, hatte er rote Augen und sah verschwitzt aus. Sein Anzug war so zerknautscht, dass man glauben konnte, er habe sich damit auf dem Boden herumgewälzt, und eine unnatürliche Stille ging von ihm aus, wie von einem unter Druck stehenden Gegenstand, der gleich explodieren wird.
Ich verstand zwar nicht, warum er so unglücklich war, aber mir war klar, dass wir an seinem Unglück schuld waren. Meine Mutter und ich gingen ihm auf die Nerven. Unseretwegen hatte er einen Job, den er nicht ausstehen konnte. Alles, was wir taten, ärgerte ihn. Speziell mit mir war er nicht gern zusammen– nicht, dass dies oft der Fall gewesen wäre. Morgens, wenn ich mich für die Schule fertig machte, saß er mit verquollenen Augen stumm vor seinem Kaffee und hatte das Wall Street Journal vor sich; sein Bademantel war offen, sein Haar stand in Wirbeln vom Kopf ab, und manchmal war er so
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