Der Distelfink
beruhigend. Janet, die ein effizientes Stimmungssystem ganz für sich allein war, Janet, dick und rosig in ihren pinkfarbenen Shetland-Pullis und Madras-Karos, eine Nymphe von Boucher, angezogen von J. Crew, Janet, deren Antwort auf alles Exzellent! lautete und die Kaffee aus einem pinkfarbenen Becher trank, auf dem Janet stand.
Es war eine Erleichterung, geradlinig zu denken. Was nützte es Boris oder sonst jemandem, wenn ich hier herumsaß und wartete? Die feuchte Kälte. Die unlesbare Sprache. Fieber und Husten. Das albtraumhafte Gefühl eingesperrt zu sein. Ich wollte nicht ohne Boris weg, nicht ohne zu wissen, ob es ihm gut ging, das war das Durcheinander in einem Kriegsfilm: weiterrennen und einen gefallenen Kameraden zurücklassen, ohne zu wissen, in welche noch schlimmere Hölle man rannte, aber gleichzeitig wollte ich so dringend weg aus Amsterdam, dass ich mir vorstellen konnte, beim Aussteigen in Newark auf die Knie zu fallen und den Boden des Terminals mit der Stirn zu berühren.
Telefonbuch. Bleistift und Papier. Nur drei Leute hatten mich gesehen: der Indonesier, Grozdan und der kleine Asiate. Es war zwar durchaus möglich, dass Martin und Frits in Amsterdam Kollegen hatten, die nach mir suchten (ein weiterer guter Grund, die Stadt zu verlassen), aber ich hatte doch keinen Anlass zu glauben, dass die Polizei mich suchte. Es gab keinen Grund, weshalb sie meinen Pass in die Fahndung geben sollten.
Dann– als hätte ich einen Schlag ins Gesicht bekommen– zuckte ich zusammen. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich gedacht, mein Pass befände sich unten, wo ich ihn beim Einchecken hatte vorlegen müssen. Aber in Wirklichkeit hatte ich überhaupt nicht mehr daran gedacht– nicht, seit Boris ihn mir weggenommen hatte, um ihn im Handschuhfach seines Wagens einzuschließen.
Ganz, ganz ruhig legte ich das Telefonbuch hin, bemühte mich, es so hinzulegen, dass es für einen neutralen Beobachter beiläufig und natürlich aussehen würde. In einer normalen Situation wäre es auch einfach genug. Adresse nachschlagen, Büro finden, feststellen, wohin ich gehen musste. Mich in die Schlange stellen. Warten, bis ich an der Reihe wäre. Höflich und geduldig sprechen. Ich hatte Kreditkarten, Ausweisfoto. Hobie könnte mir meine Geburtsurkunde faxen. Ungeduldig versuchte ich, eine Anekdote aus meinen Gedanken zu vertreiben, die Toddy Barbour beim Essen erzählt hatte– wie er einmal, als er (in Italien? in Spanien?) seinen Pass verloren hatte, einen Zeugen aus Fleisch und Blut hatte einfliegen müssen, der seine Identität bestätigte.
Tintenschwarz unterlaufener Himmel. In Amerika war es noch früh. Hobie machte gerade Mittagspause, spazierte zum Jefferson Market, kaufte vielleicht alles Nötige für den Lunch, den er am Ersten Weihnachtstag geben wollte. War Pippa noch in Kalifornien? Ich sah sie vor mir, wie sie sich in einem Hotelbett herumrollte und schlaftrunken und mit geschlossenen Augen zum Telefon griff: Theo, bist du das, ist was passiert?
Besser ein Bußgeld und ein paar Ausreden, als dass wir angehalten werden.
Ich fühlte mich krank. Mich auf dem Konsulat (oder sonst wo) zu Befragungen und zum Ausfüllen von Formularen zu präsentieren, bedeutete viel mehr Unannehmlichkeiten, als ich gebrauchen konnte. Ich hatte mir für das Warten keine Frist gesetzt, mir nicht vorgenommen, wie lange ich warten wollte, aber jede Aktion– jede beliebige, sinnlose Aktion, das Summen eines Insekts in einem Einmachglas– erschien mir besser, als noch eine Minute länger hier im Zimmer eingesperrt zu sein und aus dem Augenwinkel Schattenmenschen zu sehen.
Wieder eine große Tiffany-Anzeige in der Tribune, die mir Festtagsgrüße übermittelte. Auf der Seite gegenüber eine Anzeige für Digitalkameras, pseudo-kunstvoll gelettert und von Joan Miró unterzeichnet:
Man kann sich ein Bild eine Woche lang anschauen
und nie wieder daran denken. Und man kann
sich ein Bild eine Sekunde lang anschauen und es sein
Leben lang nicht mehr vergessen.
Centraal Station. Europäische Union, keine Passkontrollen an den Grenzen. Irgendein Zug, irgendwohin. Ich malte mir aus, wie ich ziellos im Kreis in Europa herumfuhr: Rheinfall und Tiroler Bergketten, kinohafte Tunnel und Schneestürme.
Manchmal geht es darum, ein schlechtes Blatt gut zu spielen. Ich erinnerte mich, wie mein Dad es sagte, halb schlafend auf der Couch.
Benommen vom Fieber starrte ich das Telefon an, saß ganz still da und versuchte nachzudenken. Boris hatte beim
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