Der Distelfink
meinen Träumen kam ich nie dahin, wo ich sein musste. Irgendetwas hielt mich immer davon fern.
Er hatte mir per SMS seine Nummer geschickt, bevor wir die Staaten verlassen hatten, und auch wenn ich nicht wagte, ihm zurückzuschreiben (weil ich seine Situation nicht kannte und nicht wusste, ob eine SMS zu mir zurückverfolgt werden konnte), rief ich mir ständig in Erinnerung, dass ich ihn erreichen könnte, wenn ich müsste. Und er wusste, wo ich war. Aber stundenlang, bis in die Nacht hinein, lag ich wach und diskutierte mit mir selbst: unablässig öde, hin und her, was wäre wenn, was wäre wenn, was konnte es schaden? Und schließlich, in irgendeinem desorientierten Augenblick– brennende Nachttischlampe, halb im Traum, nicht bei Sinnen–, knickte ich ein, nahm das Telefon vom Nachttisch und schickte ihm einfach eine SMS , bevor ich Gelegenheit hatte, es mir anders zu überlegen: WO BIST DU ?
Die nächsten zwei oder drei Stunden lag ich in einem Zustand kaum noch beherrschbarer Unruhe wach und hatte den Unterarm über das Gesicht gelegt, um das Licht abzuhalten, obwohl gar keins brannte. Als ich irgendwann im Morgengrauen schweißnass aufwachte, war das Telefon unglücklicherweise mausetot, denn ich hatte vergessen, es abzuschalten, und weil ich mich scheute, bei der Rezeption nachzufragen, ob sie Adapter zu verleihen hatten, wartete ich noch stundenlang, bis ich am Nachmittag schließlich nicht mehr konnte.
» Selbstverständlich, Sir « , sagte der Mann hinter der Theke und sah mich kaum an. » Amerikanisch? «
Gott sei Dank, dachte ich und bemühte mich, nicht allzu eilig wieder nach oben zu gehen. Das Telefon war alt und langsam, und als ich es eingestöpselt hatte und eine Weile stehen geblieben war, hatte ich schließlich keine Lust mehr, darauf zu warten, dass das Apple-Logo erschien, sondern ging zur Minibar und holte mir etwas zu trinken und kam dann zurück und starrte es noch ein Weilchen an, bis mein Wallpaper erschien, ein altes Schulfoto, das ich aus Jux eingescannt hatte, und noch nie war ich so froh gewesen, das Bild zu sehen, die zehn Jahre alte Kitsey, die beim Elfmeter in der Luft schwebte. Aber gerade als ich meinen Code eingeben wollte, erlosch das Display und zischelte dann ungefähr zehn Sekunden lang, schwarze und graue Streifen verschoben sich ineinander und zerbrachen zu Splittern, bevor das traurige Gesicht aufleuchtete und sich mit einem flau auslaufenden Sirren schwarz verfinsterte.
Sechzehn Uhr fünfzehn. Der Himmel über den Glockengiebeln auf der anderen Seite der Gracht färbte sich ultramarinblau. Ich saß ans Bett gelehnt auf dem Teppich und hielt das Kabel des Ladegeräts in der Hand, nachdem ich methodisch zweimal alle Steckdosen im Zimmer ausprobiert hatte. Hundert Mal hatte ich das Telefon ein- und ausgeschaltet, hatte es unter die Lampe gehalten, um zu sehen, ob es vielleicht eingeschaltet war und nur das Display nicht funktionierte, hatte es mit einem Reset versucht, aber das Telefon war eingefroren: Nichts passierte, der Monitor blieb kalt und schwarz, das Ding war einfach tot. Offenbar hatte ich einen Kurzschluss verursacht; am Abend in der Garage war es nass geworden– Wassertropfen auf dem Display, als ich es aus der Tasche genommen hatte–, aber obwohl ich eine oder zwei bange Minuten hatte warten müssen, bis es anging, hatte es doch anscheinend normal funktioniert, bis ich jetzt das Ladegerät angeschlossen hatte. Ich hatte alles zu Hause auf dem Laptop gesichert, nur nicht das, was ich brauchte: Boris’ Nummer, die er mir auf der Fahrt zum Flughafen per SMS geschickt hatte.
Reflexe vom Wasser, flirrend unter der Decke. Draußen irgendwo die dünnen Klänge eines Glockenspiels mit Weihnachtsmusik, ein schräger Chor: O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter …
Ich hatte kein Rückflugticket. Aber ich hatte eine Kreditkarte. Ich könnte mit dem Taxi zum Flughafen fahren. Du könntest mit dem Taxi zum Flughafen fahren, sagte ich mir. Schiphol. Den nächstbesten Flug. Kennedy, Newark. Geld hatte ich. Ich redete mit mir wie mit einem Kind. Keine Ahnung, wo Kitsey war– draußen in den Hamptons höchstwahrscheinlich–, aber Mrs. Barbours Assistentin Janet (die ihren alten Job immer noch hatte, obwohl Mrs. Barbour nicht mehr viel unternahm, wobei sie Assistenz gebraucht hätte) war eine Person, die einem innerhalb von ein paar Stunden überall einen Flug besorgen konnte, sogar am Heiligen Abend.
Janet. Der Gedanke an Janet war absurd
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