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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Rettungsboote zu Wasser gelassen wurden und das Schiff in Flammen stand– aber am Ende, wenn ich daran dachte, mich umzubringen, war sie diejenige, der ich es nicht antun konnte. Ich brachte es nicht über mich.
    Ich verließ das Zimmer– wollte hinuntergehen, um mich nach FedEx zu erkundigen, und mir die Website des Außenministeriums ansehen, bevor ich das Konsulat anrief– und blieb sofort wieder stehen. Am Türknauf hing eine kleine, mit einer Schleife zugebundene Tüte Süßigkeiten mit einer handbeschriebenen Karte: Merry Christmas! Irgendwo lachten Leute, und der köstliche Duft von starkem Kaffee und verbranntem Zucker und frisch gebackenem Brot vom Zimmerservice wehte durch den Korridor. Jeden Morgen hatte ich mir das Hotelfrühstück auf mein Zimmer bestellt und mich grimmig hindurchgepflügt– sollte Holland nicht berühmt sein für seinen Kaffee? Aber ich hatte ihn jeden Tag getrunken und überhaupt nichts geschmeckt.
    Ich schob die Süßigkeitentüte in meine Jacketttasche, blieb auf dem Korridor stehen und atmete tief. Selbst ein zum Tode Verurteilter durfte sich seine letzte Mahlzeit aussuchen– ein Gesprächsthema, das Hobie (selbst ein unermüdlicher Koch und ein genussvoller Esser) mehr als einmal am Ende eines Abends beim Armagnac angesprochen hatte, während er nach leeren Schnupftabaksdosen und einzelnen Untertassen suchte, die seine Gäste als Aschenbecher benutzen konnten: Für ihn war es eine metaphysische Frage, über die man am besten mit vollem Magen nachdachte, wenn die Desserts abgeräumt waren und der letzte Teller mit Jasmin-Karamell herumgereicht wurde, denn– wenn man wirklich auf das Ende schaute, auf das Ende der Nacht, wenn man die Augen schloss und der Erde zum Abschied zuwinkte– was würde man da tatsächlich wählen? Irgendeine tröstliche Erinnerung an die Vergangenheit? das einfache Brathuhn eines vergessenen Sonntags der Kindheit? Oder– ein letzter Griff nach dem Luxus, nach dem Ende des Horizonts– Fasan mit Torfbeeren und weiße Trüffel aus Alba? Was mich anging: Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich Hunger hatte, bis ich in den Korridor hinaustrat, aber in diesem Augenblick, als ich dastand mit einem wunden Magen und einem schlechten Geschmack im Mund und der Aussicht auf das, was meine letzte frei gewählte Mahlzeit sein würde, war mir, als hätte ich noch nie etwas so Köstliches gerochen wie diese zuckrige Wärme: Kaffee und Zimt und die einfachen Brötchen mit Butter vom Continental Breakfast. Komisch, dachte ich, als ich ins Zimmer zurückging und die Speisekarte vom Zimmerservice in die Hand nahm: sich etwas so Leichtes zu wünschen, einen solchen Appetit auf den Appetit selbst zu haben.
    Vrolijk Kerstfeest!, sagte der Kellner eine halbe Stunde später– ein stämmiger, zerzauster Teenager, geradewegs aus einem Jan Steen, mit einem Lamettakranz um den Kopf und einem Stechpalmenzweig hinter dem Ohr.
    Schwungvoll hob er die silbernen Kuppen von seinem Tablett. » Spezielles holländisches Weihnachtsbrot « , sagte er und zeigte ironisch darauf. » Gibt’s nur heute. « Ich hatte das » Festliche Champagnerfrühstück « bestellt. Es bestand aus einer Piccoloflasche Champagner, getrüffeltem Rührei mit Kaviar, Obstsalat, einem Teller Räucherlachs, einer Scheibe Pâté und einem halben Dutzend Schälchen mit Sauce, Cornichons, Kapern, Gewürzen und Silberzwiebeln.
    Er hatte den Champagner geöffnet und war gegangen (nachdem ich ihm fast alle meine restlichen Euros als Trinkgeld gegeben hatte), und ich hatte mir eine Tasse Kaffee eingegossen und probierte vorsichtig, ob ich ihn vertragen würde (mir war immer noch flau, und er duftete aus der Nähe nicht mehr ganz so köstlich), als das Telefon klingelte.
    Es war die Rezeption. » Frohe Weihnachten, Mr. Decker « , sagte er hastig. » Ich bedaure, aber leider ist jemand auf dem Weg zu Ihnen hinauf. Wir haben versucht, ihn hier unten aufzuhalten. «
    » Was? « Ich erstarrte. Die Tasse schwebte vor meinem Mund.
    » Auf dem Weg nach oben. Jetzt. Ich habe versucht, es zu verhindern, habe ihn gebeten zu warten, aber nein. Das heißt, mein Kollege hat ihn gebeten. Aber er ist raufgegangen, bevor ich zum Telefon kommen konnte… «
    » Ah. « Ich sah mich im Zimmer um. Meine ganze Entschlossenheit war augenblicklich verflogen.
    » Mein Kollege « – er sagte gedämpft etwas zur Seite–, » mein Kollege ist eben hinterhergelaufen– es ging alles ganz plötzlich, und ich dachte, ich sollte… «
    » Hat er

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