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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Zeit nicht existierte oder, zutreffender gesagt, in jede Richtung zugleich existierte, wo jede Geschichte, jede Bewegung sich gleichzeitig ereignete.
    Und als ich für eine Sekunde weg- und wieder hinschaute, sah ich sie hinter mir im Spiegel. Ich war sprachlos. Irgendwie wusste ich, ich durfte mich nicht umdrehen– das war gegen die Regeln, was immer an diesem Ort für Regeln gelten mochten–, aber wir konnten einander sehen, unsere Blicke konnten sich im Spiegel treffen, und sie war genauso froh, mich zu sehen, wie ich es umgekehrt war. Sie war sie selbst. Eine körperliche Erscheinung. Sie war von übersinnlicher Realität, und da war Tiefe, Information. Sie stand zwischen mir und dem Ort, von dem sie gekommen war, der Landschaft im Jenseits, wo immer sie sein mochte. Und alles drehte sich um den Augenblick, da unsere Blicke sich im Spiegel berührten, überrascht und amüsiert, ihre wunderschönen blauen Augen mit den dunklen Ringen um die Iris, hellblaue Augen mit viel Licht: Hallo! Zärtlichkeit, Intelligenz, Trauer, Humor. Da war Bewegung und Stille, Stille und Modulation, die ganze Elektrizität und Magie eines großen Gemäldes. Zehn Sekunden, Ewigkeit. Alles führte im Kreis zu ihr zurück. Man konnte es in einem Augenblick ergreifen, man konnte für immer darin leben: Sie existierte nur im Spiegel, im Innern des Rahmens, und obwohl sie nicht lebte, nicht richtig jedenfalls, war sie auch nicht tot, denn sie war noch nicht geboren und zugleich nie geboren– genauso wenig wie, seltsamerweise, auch ich. Und ich wusste, sie konnte mir alles erzählen, was ich wissen wollte (über Leben, Tod, Vergangenheit, Zukunft), auch wenn sie schon da war, in ihrem Lächeln: die Antwort auf alle Fragen, das vorweihnachtliche Lächeln eines Menschen mit einem Geheimnis, das zu wundervoll war, als dass er es schon jetzt verraten dürfte: Du wirst einfach abwarten müssen, nicht wahr? Aber gerade als sie sprechen wollte– ein liebevolles, ungeduldiges Atemholen, das ich sehr gut kannte und das ich auch in diesem Augenblick hören kann–, wachte ich auf.
    V
    Als ich die Augen öffnete, war es Morgen. Noch immer brannten alle Lampen im Zimmer, und ich lag unter der Bettdecke und wusste nicht, wie ich dort hingekommen war. Alles war immer noch gebadet und vollgesogen von ihrer Anwesenheit– höher, breiter, tiefer als im Leben, eine optische Verschiebung, die einen Regenbogenrand hervorrief, und ich weiß noch, dass ich dachte, so müssten sich Leute fühlen, die eine Heiligenvision gehabt hatten– nicht, dass meine Mutter eine Heilige war, aber ihre Erscheinung war so klar und verblüffend gewesen wie eine Flamme, die plötzlich in einem dunklen Raum aufflackert.
    Immer noch halb schlafend, trieb ich in meinem Bett dahin, getragen vom Liebreiz des Traums, der mich leise umwogte. Selbst die morgendlichen Umgebungsgeräusche im Korridor hatten die Atmosphäre und Farbe ihrer Anwesenheit angenommen, denn wenn ich in meinem halb träumenden Zustand angestrengt lauschte, war mir, als könnte ich den speziellen, leichten, fröhlichen Klang ihrer Schritte hören, der sich in das Klirren der Tabletts vom Zimmerservice draußen mischte, in das Rattern der Aufzugtrossen, das Öffnen und Schließen der Aufzugtüren: ein sehr großstädtisches Geräusch, das ich sofort mit Sutton Place verband– und mit ihr.
    Und dann plötzlich brachen die Glocken der nahen Kirche mit so wildem Geläute in die letzten Spuren von Biolumineszenz, die der Traum noch hinterlassen hatte, dass ich panisch hochfuhr und nach meiner Brille tastete. Ich hatte vergessen, welcher Tag heute war: Weihnachten.
    Unsicher stand ich auf und ging ans Fenster. Glocken, Glocken. Die Straßen waren weiß und verlassen. Reif glitzerte auf den Dachziegeln, und draußen über der Herengracht wehte und tanzte der Schnee. Ein Schwarm von schwarzen Vögeln kreiste krächzend über dem Kanal, Unruhe am Himmel, mit weiten Seitwärtskurven und Wellenbewegungen formten sie ein einziges, intelligentes Wesen und wirbelten hin und her, und ihr Flug schien fast auf Zellebene auf mich überzugehen, der weiße Himmel, der wirbelnde Schnee und der wild böige Wind der Dichter.
    Erste Regel beim Restaurieren: Tu nichts, was du nicht rückgängig machen kannst.
    Ich duschte, rasierte mich, zog mich an. In Ruhe räumte ich auf und packte meine Sachen. Irgendwie würde ich Juris Ring und die Uhr zurückgeben müssen, vorausgesetzt, dass er noch lebte, was ich zunehmend bezweifelte. Die Uhr

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