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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nicht davon, dass sie da war: Ein Wind, der durch ein eben geräumtes Haus wehte, ihre Handschrift auf einem Notizblock, der Duft ihres Parfüms, Straßen in seltsamen, verlorenen Städten, durch die sie, das wusste ich, erst einen Moment zuvor gegangen war, aber jetzt war sie fort, ein Schatten auf einer sonnenbeschienenen Wand, der sich entfernte. Manchmal sah ich sie in einer Menschenmenge, in einem Taxi, das wegfuhr, und diese kurzen Blicke auf sie waren mir kostbar, obwohl ich sie niemals einholen konnte. Immer verpasste ich sie letzten Endes: Immer war mir gerade ein Anruf entgangen, oder ich hatte ihre Telefonnummer verlegt, oder ich kam atemlos keuchend dahin gerannt, wo sie sein sollte, und sie war nicht mehr da. In meinem Erwachsenenleben pulsierte in diesen chronischen Fehlschlägen eine noch scheußlichere und schmerzhaftere Beklemmung: Von Panik gepackt erfuhr ich, erinnerte ich mich, hörte ich von unerwarteter Seite, sie lebe auf der anderen Seite der Stadt in einer schrecklichen Slumwohnung, und ich hatte sie dort aus unerklärlichen Gründen schon seit Jahren nicht besucht und keinen Kontakt zu ihr aufgenommen. Meistens war ich hektisch dabei, ein Taxi zu suchen oder sonst wie zu ihr zu kommen, wenn ich aufwachte. Diese eindringlichen Szenarien wiederholten sich auf eine borderline-brutale Weise, die mich an den angespannten Wall-Street-Ehemann einer Kundin Hobies erinnerte, der, wenn er in einer bestimmten Stimmung war, gern dieselben drei Geschichten aus seiner Vietnamkriegserfahrung immer wieder erzählte, mit denselben mechanischen Formulierungen und Gesten: dasselbe Rat-tat-tat des Maschinengewehrfeuers, dieselbe hackende Handbewegung an immer derselben Stelle. Alle Gesichter wurden sehr still, wenn er beim Drink nach dem Essen in diese Nummer verfiel, die wir alle eine Million Mal gesehen hatten und die (wie meine eigene rabiate Endlosschleife, in der ich Nacht für Nacht, Jahr für Jahr, Traum für Traum meine Mutter suchte) starr und unveränderlich blieb. Immer wieder würde er über dieselbe Baumwurzel stolpern und fallen, und niemals würde er seinen Freund Gage rechtzeitig erreichen, so wie ich es niemals schaffte, meine Mutter zu finden.
    Aber in dieser Nacht fand ich sie endlich doch. Genauer gesagt: Sie fand mich. Es erschien mir wie ein einmaliges Ereignis, auch wenn sie in einer anderen Nacht, einem anderen Traum, vielleicht noch einmal so zu mir kommen würde– vielleicht, wenn ich sterbe, obwohl mir das ein fast allzu großer Wunsch zu sein scheint. Jedenfalls hätte ich weniger Angst vor dem Tod (nicht nur vor meinem eigenen, sondern auch vor Weltys Tod, vor Andys Tod, vor dem Tod im Allgemeinen), wenn ich dächte, ein vertrauter Mensch würde uns an der Tür erwarten, denn– während ich dies schreibe, bin ich den Tränen nahe– ich muss daran denken, wie der arme Andy mir mit angstvollem Blick erzählt hatte, meine Mutter sei der einzige Mensch, den er gekannt und gemocht habe, der gestorben sei. Deshalb– als Andy hustend und prustend in dem Land auf der anderen Seite des Wassers angeschwemmt wurde, war vielleicht meine Mutter diejenige, die da bei ihm niederkniete und ihn an den fremden Gestaden willkommen hieß. Vielleicht ist es dumm, eine solche Hoffnung auch nur zu formulieren. Andererseits, vielleicht ist es noch dümmer, es nicht zu tun.
    So oder so– einmalig oder nicht–, es war ein Geschenk, und wenn sie nur einen Besuch frei hatte, wenn man ihr mehr nicht erlaubte, dann hatte sie ihn für den Augenblick aufgehoben, als er wichtig war. Denn ganz plötzlich war sie da. Ich stand vor einem Spiegel und schaute in das Zimmer hinter mir, in ein Interieur, das große Ähnlichkeit mit Hobies Laden hatte, besser gesagt, eine geräumigere und zeitloser erscheinende Version des Ladens, mit cello-braunen Wänden und einem offenen Fenster, das wie der Zugang zu einem viel größeren, unvorstellbaren Spektakel aus Sonnenlicht erschien. In diesem Rahmen sah der Raum hinter mir nicht so sehr aus wie ein Raum im konventionellen Sinn, sondern vielmehr wie eine perfekt komponierte Harmonie, eine erweiterte, realer erscheinende Realität, umgeben von einer tiefen Stille jenseits von Klang und Stimme, wo alles nur Ruhe und Klarheit war, und gleichzeitig– wie in einem rückwärtslaufenden Film– konnte man sich auch vorstellen, wie vergossene Milch in den Krug zurückschoss, wie eine springende Katze rückwärtsflog und lautlos auf dem Tisch landete– eine Wegstation, wo die

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