Der Distelfink
allein war ein Vermögen wert– so viel wie ein 7er BMW , eine Anzahlung auf eine Wohnung. Ich würde sie per FedEx an Hobie zur Aufbewahrung schicken und seinen Namen für Juri an der Rezeption hinterlassen, für alle Fälle.
Beschlagene Scheiben, Kopfsteinpflaster geisterhaft unter dem Schnee, tief und sprachlos, kein Verkehr auf der Straße, Jahrhunderte überblendet, die 1940er über die 1640er.
Es war wichtig, die Gedanken nicht zu tief gehen zu lassen. Es war wichtig, mich von der Energie des Traums, der mir ins Wachsein gefolgt war, tragen zu lassen. Weil ich kein Niederländisch sprach, würde ich ins amerikanische Konsulat gehen und dort jemanden bei der holländischen Polizei anrufen lassen. Ich würde einem Konsulatsmitarbeiter das Weihnachtsfest verderben, das festliche Familienessen. Aber ich vertraute mir selbst nicht, um noch zu warten. Vielleicht wäre es eine gute Idee hinunterzugehen, mir die Website des Außenministeriums anzusehen und mich über meine Rechte als amerikanischer Staatsbürger zu informieren– es gab sicher viele Gegenden auf der Welt, in denen die Gefängnisse schlechter waren als in den Niederlanden, und wenn ich offen alles erzählte, was ich wusste (von Horst und Sascha, Martin und Frits, Frankfurt und Amsterdam), würden sie das Bild vielleicht aufspüren können.
Aber man konnte nie wissen, wie es laufen würde. Sicher war nur eins: Die Zeit des Ausweichens war vorbei. Was immer auch passierte, ich wollte nicht sein wie mein Vater und tricksen und deichseln bis zum letzten Moment, da der Wagen sich überschlug und krachend in Flammen aufging. Ich würde für alles geradestehen und akzeptieren, was ich verdiente. In diesem Sinne ging ich geradewegs ins Bad und spülte den Glassinumschlag ins Klo.
Und das war’s: genauso schnell wie bei Martin und genauso unwiderruflich. Wie hatte mein Dad so gern gesagt? Deine Suppe musst du auslöffeln. Nicht, dass er es je getan hätte.
Ich war in allen Ecken des Zimmers gewesen und hatte getan, was getan werden musste– nur die Briefe waren noch da. Schon beim Anblick der Handschrift zog ich schmerzlich den Kopf ein. Aber– mein klares Bewusstsein brachte mich noch einmal zurück: Ich musste Hobie schreiben– nicht das selbstmitleidige Genudel des Betrunkenen, sondern ein paar geschäftsmäßige Zeilen: wo das Scheckheft lag, das Kassenbuch, der Schließfachschlüssel. Wahrscheinlich konnte ich die Möbelfälschereien auch gleich schriftlich zugeben und glasklar feststellen, dass er nichts davon gewusst hatte. Vielleicht konnte ich es im Konsulat notariell beglaubigen lassen, und vielleicht würde Holly (oder sonst wer) Mitleid haben und jemanden dazurufen, der als Zeuge fungierte, bevor sie die Polizei informierten. Grisha könnte vieles bestätigen, ohne sich selbst zu belasten: Wir hatten nie darüber gesprochen, er hatte mir keine Fragen gestellt, aber er hatte gewusst, dass es nicht koscher war– die dauernden heimlichen Ausflüge zum Lagercontainer.
Blieben also noch Pippa und Mrs. Barbour. Gott, die Briefe, die ich Pippa geschrieben und nie abgeschickt hatte! Mein bester, mein kreativster Versuch– nach dem katastrophalen Besuch mit Everett– hatte begonnen und geendet mit einer Zeile, die ich als leicht und anrührend empfunden hatte: Gehe für ein Weilchen weg. Damals war es mir wie der scheinbare Abschiedsbrief eines Selbstmörders erschienen, in der bündigen Kürze jedenfalls: ein kleines Meisterwerk. Leider hatte ich die Dosis falsch berechnet und war zwölf Stunden später auf einem vollgekotzten Bett aufgewacht und hatte, immer noch krank wie ein Hund, die Treppe hinuntertaumeln müssen, weil um zehn eine Besprechung mit dem Finanzamt stattfand.
Aber davon abgesehen: Ein Abschiedsbrief von einem, der ins Gefängnis ging, war etwas anderes und blieb besser ungeschrieben. Pippa konnte ich nichts vormachen; sie wusste, wer ich war, und ich hatte ihr nichts zu bieten. Ich war Krankheit, Instabilität– alles, was sie nicht haben wollte. Das Gefängnis würde ihr nur bestätigen, was sie schon wusste. Ich konnte nichts Besseres tun, als den Kontakt abzubrechen. Wenn mein Vater meine Mutter wirklich geliebt hätte– wirklich so geliebt hätte, wie er es angeblich einmal getan hatte–, hätte er dann nicht das Gleiche getan?
Und dann– Mrs. Barbour. Es war die Erkenntnis auf dem sinkenden Schiff, diese extrem überraschende Einsicht über einen selbst, die man erst im absolut letzten Augenblick hatte, wenn die
Weitere Kostenlose Bücher