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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Wohnung meiner Freundin in der Jordaan gefunden und lange in der Badewanne gelegen, aber ohne Wasser. Also… « Misstrauisch betrachtete er meine kaffeefleckige Hemdbrust.
    » Ich habe kein Gras geraucht. «
    » Weiß ich, hast du schon gesagt! Hab dir nur eine Geschichte erzählt. Ich dachte, vielleicht findest du ein bisschen interessant. Na, schadet nichts « , sagte er. » Von mir aus. « Das Schweigen, das folgte, nahm kein Ende. » Ich hab vergessen– vergessen zu sagen « , er goss mir ein Glas Mineralwasser ein, » nach dem, was ich dir erzählt habe? Auf dem Damrak? Drei Tage lang ging es mir schlecht. Mein Mädchen sagt: › Lass uns ausgehen, Boris, du kannst hier nicht rumliegen und das Wochenende verplempern. ‹ Hab gekotzt im Van-Gogh-Museum. Hatte echt Klasse. «
    Das kalte Wasser, das mir durch die wunde Kehle floss, machte mir Gänsehaut und weckte eine geradezu körperliche Erinnerung aus meiner Kindheit: schmerzhaft helle Wüstensonne, ein schmerzhafter Kater am Nachmittag, Zähneklappern in klimatisierter Kälte. Boris und ich, so krank, dass wir immer wieder würgten und über das Würgen lachten, sodass wir noch heftiger würgten. Altbackene Cracker aus einer Schachtel in meinem Zimmer blieben uns im Hals stecken.
    » Na « , Boris warf mir einen verstohlenen Seitenblick zu, » vielleicht ist auch ein Virus im Umlauf. Wenn nicht Weihnachten wäre, würde ich runterlaufen und dir was für deinen Magen holen. Hier, hier… « Er löffelte etwas auf einen Teller und hielt ihn mir hin. Dann nahm er die Champagnerflasche aus dem Eiskübel, betrachtete noch einmal den Restpegel und schüttete dann alles in mein halb leeres Orangensaftglas (halb leer, weil er selbst davon getrunken hatte).
    » Hier. « Er hob sein Glas. » Frohe Weihnachten! Ein langes Leben für uns beide! Christus ist geboren, lasset uns ihn preisen! Und jetzt « , er trank, kippte die Brötchen auf das Tischtuch und löffelte sich etwas zu essen in die Keramikschale, » es tut mir leid, ich weiß, du willst alles hören, aber ich habe Hunger und muss zuerst etwas essen. «
    Pâté. Kaviar. Weihnachtsbrot. Trotz allem hatte ich jetzt auch Hunger, und ich beschloss, dankbar für den Augenblick und für das Essen auf meinem Teller zu sein. Ich fing an zu essen, und eine Weile sagte keiner von uns etwas.
    » Besser? « , fragte er schließlich und sah mich an. » Du bist erschöpft. « Er nahm sich noch Lachs. » Ist ’ne üble Grippe unterwegs. Shirley hat sie auch. «
    Ich sagte nichts. Ich hatte gerade erst angefangen, mich auf die Tatsache einzustellen, dass er hier bei mir im Zimmer war.
    » Ich dachte, du bist unterwegs mit einem Mädel. Also– wo Juri und ich gewesen sind « , fuhr er fort, als ich nicht antwortete. » In Frankfurt. Na ja, das weißt du. War vielleicht eine verrückte Zeit! Aber… « Er trank seinen Champagner aus, ging zur Minibar, hockte sich davor und spähte hinein.
    » Hast du meinen Pass? «
    » Ja, ich habe deinen Pass. Wow, was für ein schöner Wein! Und all die schönen Absolut-Minis! «
    » Wo ist er? «
    » Ah… « Er kam zurück mit einer Flasche Rotwein unter dem Arm und drei Mini-Fläschchen Wodka, die er in den Eiskübel legte. » Hier, bitte. « Er angelte ihn aus der Tasche, warf ihn achtlos auf den Tisch und setzte sich. » Wollen wir anstoßen? «
    Ich saß reglos auf dem Bett und hielt den halb leeren Teller auf dem Schoß. Mein Pass.
    In dem lang gezogenen Schweigen steckte Boris die Hand über den Tisch und schnippte mit dem Mittelfinger gegen mein Champagnerglas. Das scharfe kristallene Klingen hörte sich an, als klopfe jemand nach dem Essen mit dem Löffel an sein Glas.
    » Darf ich um deine Aufmerksamkeit bitten? « , fragte er ironisch.
    » Was? «
    » Anstoßen? « Er hielt mir sein Glas schräg entgegen.
    Ich rieb mir die Stirn. » Auf was? «
    » Hä? «
    » Auf was genau willst du anstoßen? «
    » Auf Weihnachten? Die Gnade Gottes? Genügt das? «
    Das Schweigen zwischen uns war nicht wirklich feindselig, aber je länger es dauerte, desto wütender und unbeherrschbarer fühlte es sich an. Schließlich ließ Boris sich auf seinen Stuhl zurückfallen, deutete mit dem Kopf auf mein Glas und sagte: » Ich frage ungern, aber wenn du mich fertig angestarrt hast, können wir dann vielleicht…? «
    » Ich muss das alles irgendwann mal verstehen. «
    » Was? «
    » Ich glaube, ich muss das alles irgendwann in meinem Kopf sortieren. Das wird ziemlich viel Arbeit werden. Die eine

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