Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
war zu dumm, um das zu wissen. Ich kann nur sagen, es war ein ziemlicher Unterschied zur Lower East Side, wo Obdachlose in Mülltonnen Feuer machten. Hier oben war es am Wochenende wie verzaubert– ein Spaziergang durch ein Museum– allein durch den Central Park zu zockeln… «
    » Zockeln? « So vieles von dem, was sie sagte, klang in meinen Augen exotisch, und zockeln hörte sich an wie irgendein Pferdeausdruck aus ihrer Kindheit, ein träger Trott vielleicht, eine Pferdegangart zwischen Schritt und Trab.
    » Ach, du weißt schon, zu bummeln und zu stromern, wie ich es tue. Ich hatte kein Geld, aber Löcher in den Strümpfen, und lebte von Hafergrütze. Ob du es glaubst oder nicht, an manchen Wochenenden bin ich zu Fuß hier heraufgegangen. Hab mein U-Bahn-Geld für die Rückfahrt gespart. Damals hatte sie noch die Marken, keine Karten. Und obwohl man doch eigentlich bezahlen muss, um in ein Museum zu gehen? Die › erbetene Spende ‹ ? Na, ich schätze, ich muss damals viel frecher gewesen sein, aber vielleicht hatten sie auch nur Mitleid mit mir, weil– o nein! « , sagte sie in einem veränderten Ton und blieb unvermittelt stehen, sodass ich sie ein paar Schritte hinter mir ließ, ohne es zu merken.
    » Was ist? « Ich machte kehrt. » Was ist los? «
    » Ich hab was gespürt. « Sie streckte die flache Hand aus und schaute zum Himmel. » Du auch? «
    Und während sie noch redete, schwand das Licht. Der Himmel verdunkelte sich in Sekundenschnelle, der Wind raschelte in den Bäumen im Park, und die jungen Blätter an den Bäumen standen zart und gelb vor schwarzen Wolken.
    » Herrgott, das musste ja so kommen « , sagte meine Mutter. » Gleich wird’s gießen. « Sie beugte sich über die Straße hinaus und spähte nach Norden. Kein Taxi.
    Ich nahm ihre Hand wieder. » Komm « , sagte ich, » auf der anderen Seite haben wir mehr Glück. «
    Ungeduldig warteten wir das letzte Blinken der Fußgängerampel ab. Papierfetzen wirbelten durch die Luft und segelten die Straße hinunter. » Hey, da kommt ein Taxi « , sagte ich und schaute die Fifth Avenue hinauf. Im selben Augenblick stürzte ein Geschäftsmann zum Randstein und hob die Hand, und das Taxilicht erlosch.
    Auf der anderen Straßenseite zogen die Maler hastig Plastikplanen über ihre Bilder. Wir rannten hinüber, und gerade als wir auf der anderen Seite ankamen, klatschte mir ein dicker Regentropfen auf die Wange. Vereinzelte braune Kleckse– weit auseinander, so groß wie Zehn-Cent-Stücke– platzten auf dem Gehweg auf.
    » Oh, Mist! « , rief meine Mutter. Sie fummelte in ihrer Tasche herum und suchte den Schirm, der kaum groß genug für eine Person war, von zweien ganz zu schweigen.
    Und dann ging es los. Kalte Regenschleier wehten seitwärts heran, breite Böen brandeten durch die Baumwipfel und ließen die Markisen auf der anderen Straßenseite flattern. Meine Mutter kämpfte mit dem ulkigen kleinen Regenschirm und versuchte ohne großen Erfolg, ihn aufzurichten. Die Leute auf der Straße und im Park hielten sich Zeitungen und Aktentaschen über die Köpfe und hasteten die Treppe zum Portikus des Museums hinauf, weil man nur dort Schutz vor dem Regen fand. Und es hatte etwas Festliches, Glückliches, wie wir beide unter dem kümmerlichen, bunt gestreiften Schirm die Stufen hinaufsprangen, schnell schnell schnell, vor aller Augen, als flüchteten wir vor etwas Schrecklichem, statt ihm geradewegs in die Arme zu laufen.
    IV
    Drei wichtige Dinge waren meiner Mutter passiert, nachdem sie ohne Freunde und praktisch ohne Geld mit dem Bus aus Kansas nach New York gekommen war. Das erste war, dass sie einem Fotoagenten namens Davy Jo Pickering beim Kellnern in einem Coffeeshop im Village auffiel– eine unterernährte junge Frau in Doc Martens und Secondhand-Kleidern, mit einem Zopf auf dem Rücken, der so lang war, dass sie darauf sitzen konnte. Als sie ihm seinen Kaffee brachte, bot er ihr erst siebenhundert und dann tausend Dollar, wenn sie für ein Mädchen einspränge, das zu einem Katalog-Shooting auf der anderen Straßenseite nicht erschienen war. Er zeigte ihr den Location Van, das Equipment, das am Sheridan Park aufgebaut wurde, er zählte die Scheine ab und legte sie auf die Theke. » Geben Sie mir zehn Minuten Zeit « , sagte sie, erledigte den Rest ihrer Frühstücksbestellungen, hängte die Schürze an den Haken und ging.
    » Ich war nur Katalog-Model « – darauf wies sie die Leute immer ausdrücklich hin, und es sollte bedeuten, dass sie

Weitere Kostenlose Bücher