Der Distelfink
hinter ihr die große Treppe hinaufstieg, hin- und hergerissen zwischen der vorausschauenden Notwendigkeit, in ihrer Nähe zu bleiben, und dem Drang, mich ein paar Schritte zurückzuhalten und so zu tun, als gehörte ich nicht zu ihr.
» Ich finde es grässlich, hier so durchzurennen « , sagte sie eben, als ich sie oben an der Treppe eingeholt hatte, » aber andererseits ist es natürlich eine Ausstellung, in die man sowieso zwei oder drei Mal gehen muss. Da ist die Anatomiestunde, und die müssen wir natürlich sehen, aber was ich wirklich sehen möchte, ist ein winziges, selten gezeigtes Bild von einem Maler, der Vermeers Lehrer war. Der größte der alten Meister, von dem man nie etwas gehört hat. Die Frans-Hals-Gemälde sind auch eine große Sache. Hals kennst du doch, oder? Der fröhliche Trinker? Und die Vorsteherinnen des Altmännerhauses?«
» Ja, genau « , sagte ich zögernd. Von den Bildern, die sie aufgezählt hatte, kannte ich nur die Anatomiestunde. Ein Detail daraus war auf dem Plakat zur Ausstellung abgebildet: fahles Fleisch, Schwarz in vielen Schattierungen, alkoholkrank aussehende Zuschauer mit blutunterlaufenen Augen und roten Nasen.
» Sachen aus dem Grundkurs Malerei « , sagte meine Mutter. » Hier, jetzt nach links. «
Oben war es eisig kalt, und meine Haare waren noch nass vom Regen. » Nein, nein, hier entlang. « Sie griff nach meinem Ärmel. Die Ausstellung zu finden war kompliziert, und als wir durch die belebten Galerien wanderten (uns durch große Gruppen schlängelten, rechts abbogen, links abbogen, unseren Weg durch verwirrend angelegte und beschilderte Labyrinthe zurück suchten), erschienen in unregelmäßigen Abständen und an unerwarteten Stellen große, düstere Reproduktionen der Anatomiestunde wie unheilvolle Wegweiser, immer derselbe alte Leichnam mit dem enthäuteten Arm, und darunter rote Pfeile: Operationssaal, hier entlang.
Ich war nicht sehr begeistert von der Aussicht auf eine Menge Bilder mit Holländern, die in dunklen Kleidern herumstanden, und als wir durch die Glastür traten– aus hallenden Korridoren in teppichgedämpfte Stille–, dachte ich zuerst, wir seien im falschen Saal gelandet. An den Wänden leuchtete der warme, matte Dunst des Wohlstands, die typische Reife des Alten, aber im nächsten Moment brach alles auseinander und wurde zu Klarheit und Farbe und purem Nordlicht. Porträts, Interieurs, Stillleben, manche winzig, andere majestätisch: Damen mit Ehemännern, Damen mit Schoßhündchen, einsame Schönheiten in bestickten Gewändern und prachtvolle Kaufleute, Solitäre mit Juwelenschmuck und Pelz. Verwüstete Banketttafeln, übersät von geschälten Äpfeln und Walnussschalen, drapierte Tapisserien und Silber, Trompe-l’ Œ il-Malereien mit krabbelnden Insekten und gestreiften Blumen. Und je tiefer wir hineinwanderten, desto seltsamer und schöner wurden die Bilder. Geschälte Zitronen, deren Rinde an der Messerschneide leicht verhärtet war. Der grünliche Schatten eines Schimmelflecks. Licht auf dem Rand eines halbvollen Weinglases.
» Das hier gefällt mir auch « , flüsterte meine Mutter und kam vor einem eher kleinen und besonders spukhaften Stillleben an meine Seite. Ein weißer Schmetterling schwebte vor einem dunklen Hintergrund über einer roten Frucht. Der Hintergrund– ein schweres Schokoladenschwarz– war von einer komplizierten Wärme, die an volle Lagerräume denken ließ, an Geschichte, an das Vergehen der Zeit.
» Sie verstanden es wirklich, diesen schmalen Bereich herauszuarbeiten, diese niederländischen Maler– Reife, die in Fäulnis übergeht. Die Frucht ist perfekt, aber sie wird nicht halten, sie wird bald vergehen. Und sieh mal, besonders hier « – sie langte über meine Schulter und malte mit dem Finger in die Luft–, » dieser Teil hier, der Schmetterling. « Die Unterseite des Flügels war so puderig und zart, dass es aussah, als würde die Farbe verschmieren, sobald sie sie berührte. » Wie wunderschön er damit spielt. Stille mit einem bebenden Hauch von Bewegung. «
» Wie lange hat er gebraucht, um das zu malen? «
Meine Mutter, die ein bisschen zu nah hinter mir gestanden hatte, trat einen Schritt zurück, um das Bild zu betrachten, ohne von dem kaugummikauenden Wärter Notiz zu nehmen, dessen Aufmerksamkeit sie erregt hatte und der jetzt ihren Rücken anstarrte.
» Na ja, die Holländer haben das Mikroskop erfunden « , sagte sie. » Sie waren Juweliere und Linsenschleifer. Sie wollen alles so
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