Der Dominoeffekt
Sie hatte nicht nachgefragt. Erstens, weil es sie nicht wirklich interessierte, zweitens, weil sie Angst vor der Antwort hatte, und drittens, weil sie meinte, die Antwort schon zu kennen.
Seufzend fuhr sich de Vries über ihren schwarzen Pagenkopf und sah auf die Uhr. Gleich musste sie los, ob sie wollte oder nicht. Die Kripo erwartete sie bestimmt schon, und dass sich die Ermittlungen verselbstständigten, das wollte sie auch nicht. So wie sich der Fall im Moment darstellte, konnte sie mit Routine nichts falsch machen, außerdem würde das BKA eh bald seine Finger auf die Akten legen.
Die Staatsanwältin seufzte erneut, raffte ihre Unterlagen zusammen, steckte den Ordner in ihre Aktentasche und schlüpfte in ihre Sommerjacke. Während sie das bunte Seidentuch um den Hals schlang, nahm sie sich vor, so bald wie möglich Urlaub zu nehmen und endlich mal wieder auszuspannen. Mit oder ohne Veronika.
12
»Gestatten? Fresenius, Günter Fresenius.«
Wielert hob verärgert die Augen und starrte, genauso wie seine Mitarbeiter, zur Tür. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er unfreundlich.
»Nein. Aber ich beziehungsweise wir Ihnen. Wir sind vom BKA.«
Hinter dem stramm auf die sechzig zugehenden Besucher, dessen grauer Haarschopf in einem millimetergenau gezimmerten Maßanzug steckte, tauchte eine zierliche Frau auf, höchstens Ende zwanzig. »Meine Kollegin, Frau Schwenke. Hier haust doch das KK 11, nicht wahr?«
Wielert heftete eine gezwungene Fröhlichkeit in sein Gesicht und nickte. »Natürlich, kommen Sie doch bitte herein… auch wenn wir uns dann endgültig nicht mehr umdrehen können.«
Fresenius lächelte. »Besitzt die Bochumer Kripo keinen Raum, in dem wir alle Platz finden?«
»Eigentlich schon. Aber der Besprechungsraum wird zurzeit renoviert.«
Fresenius nickte und gab seiner Mitarbeiterin per Kopfzeichen die Erlaubnis, Wielerts Büro zu betreten. Die Frau schleppte zwei dicke Aktentaschen, das Gewicht ihres Gepäcks drückte sich tief in ihre Handflächen.
»Es wird schon gehen«, meinte der BKA-Mann und folgte seiner Kollegin auf den Fersen. »Mit wem habe ich es bitte zu tun?«
Wielert schluckte eine freche Antwort herunter und stellte die Anwesenden vor. Außer seinen eigenen Leuten hatte auch Wilde vom Bruch an der Besprechung teilgenommen.
»Unsere Kreisel-Bande hat also auch bei Ihnen zugeschlagen?«, kam Fresenius zum Thema, nachdem er jedem Einzelnen einen Blick gegönnt hatte.
»Kreisel-Bande?«, fragte Gassel. »Hab ich noch nie etwas von gehört.«
»Unter diesem Decknamen laufen die Ermittlungen unserer Soko. Wir versuchen schon seit fast zwei Jahren, diese Leute unschädlich zu machen. Wie Sie nach dem heutigen Morgen selbst erfahren konnten, bisher leider erfolglos.«
»Sind Sie sich denn sicher, dass Ihre Bande auch hier am Werk war?«, fragte Hofmann.
Schwenke, die bisher geschwiegen hatte, warf eine ihrer roten Locken aus dem Gesicht und schenkte dem Stoppelhaarigen einen langen Blick. Ihre Stimme war warm und tief. »So gut wie. Die Vorgehensweise passt zu den Kreiseln, wie ich sie mal etwas salopp nennen möchte. Der Modus Operandi ist uns vertraut. Novum ist der Tote, so etwas ist bisher noch nicht vorgekommen.«
»Was haben die denn alles auf dem Kerbholz?«
Schwenke warf Fresenius einen fragenden Blick zu, und als dieser keine Einwände erhob, öffnete sie eine der Aktentaschen und zog einen Packen ordentlich geklammerter Blätter hervor.
»Ich habe ein ausführliches Dossier mit unseren bisherigen Ermittlungsergebnissen mitgebracht. Um die Quintessenz vorwegzunehmen, wir schätzen allein die Zahl der schweren Einbrüche und Raubüberfälle, die auf das Konto dieser Leute gehen, auf weit über einhundert, dazu kommen noch etliche Fälle schweren Betruges, höchstwahrscheinlich auch Menschenhandel, Förderung der Prostitution, Drogenhandel und und und. Wir haben es also mit organisierter Kriminalität zu tun.«
Wielert nickte bedächtig. »Wo liegt das Haupteinsatzgebiet der Bande?«
»Jetzt wird es interessant«, antwortete Fresenius und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Nirgendwo. Diese Bande ist bundesweit tätig, wir wissen auch von einigen Vorkommnissen, die sich in Nachbarländern ereignet haben und die wir ebenfalls den Kreiseln zurechnen. Und wir sprechen in jedem Fall über eine generalstabsmäßig geplante Aktion. Allein die Tatsache, dass es bisher nie Personenschäden gegeben hat, spricht für eine penible Vorbereitung der
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