Der Dominoeffekt
Vermutung am Tatort Recht: Das ist ein verdammt undankbarer Fall.«
11
Mit leeren Augen starrte Claudia de Vries auf die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Obwohl die Fotos, die aus der noch dünnen Kladde gerutscht waren, einen entsetzlich zugerichteten Leichnam zeigten, drangen die Bilder nur bis zu ihrer Netzhaut, eine Verarbeitung des Gesehenen geschah nicht. Zumindest nicht mehr.
Missmutig stieß sich die Staatsanwältin mit den Füßen am Boden ab und ließ ihren Drehstuhl zurückgleiten. Sie achtete darauf, dass sie nur noch das Fenster im Blick hatte und nicht den mit Aktenbergen übersäten Schreibtisch.
Am liebsten hätte sie sich ein paar große Müllsäcke besorgt, alles, was nach Arbeit aussah, da hineingeschaufelt und sich mit gepackten Koffern zum nächstbesten Flughafen begeben, um irgendwohin in die Sonne zu fliegen. De Vries musste sich eingestehen, dass sie fertig war.
Seit sie vor gut drei Jahren nach Bochum versetzt worden war, hatte sie insgesamt höchstens vier Wochen Urlaub genommen, davon nur einmal zehn Tage am Stück.
Normalerweise hatte sie kein Problem mit der Arbeitsbelastung, ganz im Gegenteil. Sie liebte ihren Job, den Stress, die Macht, die sie über die ermittelnden Polizeibehörden ausüben konnte. Ganz besonders liebte sie es jedoch, einen Gewalttäter so weit zu bringen, dass er vor ihr zusammenbrach und sämtliche Straftaten seit der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain gestehen wollte. In solchen Momenten fühlte sie sich wie elektrisiert, eine Gänsehaut breitete sich an ihren Armen und Beinen aus, ein tiefes Gefühl der Befriedigung stellte sich ein. Doch diese Momente hatte sie in den letzten Monaten immer seltener erlebt.
Als sie heute Morgen der Anruf wegen der Leichensache auf der Kortumstraße erreichte, hatte sie schlaftrunken den Hörer abgenommen, sich angehört, was der Typ von der Kripo erzählte, und war dann wieder eingeschlafen. Etwas Derartiges war ihr zuvor noch nie passiert.
Natürlich wagte es niemand, sie für ihr Schwänzen am Tatort zur Rechenschaft zu ziehen, die Behauptung, ihr Auto sei nicht angesprungen und das georderte Taxi habe sie versetzt, hatte ausgereicht, um jeden vorwurfsvollen Blick im Keim zu ersticken.
De Vries hatte sich selbst natürlich am meisten geärgert, sich zur Ordnung gerufen und sich strikt vorgenommen, nach Durchsicht der Unterlagen besonderen Elan an den Tag zu legen. Und dann hatte sie die Akte, die von der Kripo herübergeschickt worden war, aufgeschlagen und als Erstes die Bilder gesehen – und schlagartig war es mit ihren guten Vorsätzen vorbei gewesen.
Alles war wieder da, so, als hätte sie einen Flashback oder ein Déjà-vu. Der Sommertag vor fast genau zwei Jahren, als sie sich mit der unglaublichsten Frau hatte treffen wollen, die sie bis dahin kennen gelernt hatte. Plötzlich stand de Vries wieder in Bochum am Terminal, dem umstrittenen Kunstwerk in der Nähe des Hauptbahnhofes, wartete vor der roten Fußgängerampel. Was dann passiert war, lief vor ihrem geistigen Auge immer noch ab wie ein schlechter Horrorfilm: Carla op den Hövel trat aus dem Hotel und versuchte, vor den ebenfalls anwesenden Kollegen der Kripo zu fliehen.
De Vries hatte entsetzt mit ansehen müssen, wie die Frau, in die sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte, von einem Bus überfahren wurde.
Als sie aus den Akten erfuhr, weswegen Carla von der Kripo verhaftet werden sollte, hatte das ihre Seelenqualen nur noch verstärkt. Diese Frau hatte so viel Schlimmes durchgemacht, dass de Vries ihr eigener Leidensweg wie ein Kindercomic vorkam.
Ihr Privatleben war seit dem Vorfall eine einzige Katastrophe. Veronika, ihre Lebensgefährtin, war eine Frau, die de Vries insgeheim beneidete. Sie war jünger, sah blendend aus, war intelligent und beruflich als Investmentberaterin sehr erfolgreich. Alles, was die Staatsanwältin sich hatte hart erarbeiten müssen, war ihrer Freundin einfach so zugeflogen. Von der früheren gemeinsamen Begeisterung und Leidenschaft war nicht mehr viel übrig geblieben, heute lebten sie mehr oder weniger nebeneinander her, wechselten meistens nur notwendige oder belanglose Sätze und leisteten im Bett nur noch ein geringes Pflichtprogramm ab.
Veronika war sowieso kaum noch zu Hause. Und manchmal, wenn sie dann spätabends heimkam, angeblich vom Sportstudio oder woher auch immer, roch de Vries ein fremdes Parfüm. Einmal hatte sie lange blonde Haare auf der Jacke ihrer Lebensgefährtin gefunden.
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