Der Drache aus dem blauen Ei
zu sehen war, mit ihrem Bastelkleber fest zusammen.
Alle waren besorgt um Lavundel, aber um Punkt sieben erklang wieder ein dünnes Stimmchen. „Mörchen! So-fort!“
Anja war erleichtert. Aber sie hatte sich offenbar zu früh gefreut. Denn heute gefiel Lavundel keine der Geschichten, die sie ausgesucht hatte.
Bei Hänsel und Gretel jammerte Lavundel: „Verirrt im Wuld! Blödes Mörchen! Will ein anderes!“
Also versuchte Anja es mit Schneewittchen . „Vom Jäger ausgesetzt“, krakeelte der Drache. „Oh weeeh!“
Und beim Märchen von der Schneekönigin , die den kleinen Kai in ihr Reich entführte, war es schließlich ganz vorbei. „Huhuuu!“, heulte der Drache wie eine Sirene los. „Ganz allein in Eis und Schnee. Der arme Kai!“
Anja sah betroffen zu, wie dicke Tränen über das kleine Gesicht kullerten. Und plötzlich wusste sie, was dem Drachen fehlte: Er hatte gar keine Angst vor einem Ritter! Etwas anderes auf dem Bild im Märchenbuch hatte ihn so traurig gemacht!
„Du vermisst die anderen Drachen, nicht wahr?“, fragte Anja leise. „Du fühlst dich allein und dir fehlt deine Mama.“
Lavundel nickte heftig und schaute Anja mit großen Augen an. Dann schnäuzte er sich in seine Decke und kletterte aus dem Bett. Er setzte sich auf Anjas Schoß wie ein Märchenerzähler im Schneidersitz. Dann sah er sie ganz ernst an.
„Ich erzähl dir das Lavundel-Mörchen“, sagte er feierlich mit seinem heiseren Fiepstimmchen. „Es war einmal ein kleiner Druche. Er lebte in einem Ei. Das Ei lag in einem Druchennest. Das ist ein Vulkan mit heißer Lava. Schön kuschelig warm! Seine Mama hat jeden Tag für ihn gesungen. Und sie hat ihn mit ihrem Feuer eingehüllt. Eines Tages hat Mama den kleinen Druchen im Ei mitgenommen. Hoch hinauf in die Luft.“
Anja stellte sich die Drachenmutter vor. Sicher war sie auch weiß und hatte ein schönes Schneeflockenmuster auf den Schuppen.
„Die Druchen fliegen jeden Wunter zum schönsten Schnee der ganzen Welt“, erzählte Lavundel weiter. „Nach Siburien. Da, wo das Meer aus Eis ist. Die Druchenmamas tragen die Eier auf dem Rücken. Die Druchen waren lange unterwegs. Doch plötzlich hat es geknallt – überall, ganz laut! Geknallt und gezuscht.“
Anja überlegte. Dann ging ihr plötzlich ein Licht auf.
„Das war das Silvesterfeuerwerk“, rief sie. „Natürlich! Ihr seid bestimmt genau um Mitternacht über unseren Park geflogen.“
„Dann wurde es butterkalt“, fuhr Lavundel fort. „Der Wund machte ‚Huiii!‘ und Lavundel hatte ein Kribbeln im Bauch, weil er fiel – ganz tief. Und dann: Plumps! Schnee. Kälte. Allein. Wie Kai und wie das Schneewuttchen im Wald.“
Jetzt wurde auch Anja traurig. So war Lavundel also in den Park gekommen. Seine Mutter hatte das Ei vor lauter Schreck verloren, als sie nachts über den Park geflogen war! Der Arme! Sie streichelte Lavundel mit dem Finger über den gezackten Rücken. „Deine Mama vermisst dich bestimmt ganz doll“, tröstete sie ihn. „Sie sucht dich sicher schon überall. Sie wird zurückkommen!“
Aber dabei lief ihr doch ein kleiner Schauer über den Rücken. Was würde geschehen, wenn Lavundels Mama wirklich in ihrer Straße auftauchte? Ein riesiger Drache, der Feuer speien konnte? Ihr fiel ein, wie Alexander das menschenfressende Ungetüm nachgemacht hatte.
Lavundel stieß einen tiefen Seufzer aus. „Die Druchenmama hat nicht gemerkt, dass Lavundel weg war. Sie ist mit den anderen weiter nach Siburien geflogen. Ich muss warten, bis sie wuderkommen. Wenn ich schnell fliegen lerne, kann ich Mama finden!“
So sah es also aus. Lavundel musste wachsen und lernen, mit den anderen Drachen zu fliegen. Anja betrachtete die winzigen Flügel nachdenklich: Bis dahin würde es noch eine ganze Weile dauern. Es war nicht nett, so zu denken. Aber insgeheim freute sie sich, dass Lavundel noch länger bei ihrer Familie bleiben musste. Aber natürlich wollte sie alles dafür tun, dass er nicht mehr so traurig war. Wie ließ sich sein Heimweh bloß vertreiben?
„Du bist also ein richtiger Feuerdrache?“, fragte sie. „Magst du es deshalb gern so warm?“
Lavundel nickte eifrig. „Heiß!“, sagte er. Und seine Augen begannen wenigstens ein bisschen zu leuchten.
„Und in deinem Drachennest war es immer richtig schön warm?“, fragte Anja weiter.
Lavundels Augen leuchteten noch mehr.
„Dann weiß ich, wie wir dir hier ein schönes Nest bauen können“, rief Anja.
Sie sprang auf und lief
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