Der Drache aus dem blauen Ei
Schwanzspitze mit dem Lineal. Am Ende der Woche war er bereits einen halben Zentimeter gewachsen und hatte zwanzig Gramm zugenommen. Schon passte ihm der rosa Barbiemantel nicht mehr.
Am Vormittag war Lavundel am liebsten bei Mama in ihrem Arbeitszimmer. Er saß ganz still und brav neben ihr und starrte mit offenem Maul auf den Computerbildschirm.
Längst hatte sich Lavundels Hamsterkäfig wirklich in einen kleinen Palast verwandelt. Mama hatte alle Türen herausgenommen und auch das Gitter an einer Seite entfernt. Jetzt sah die Drachenwohnung richtig gemütlich aus. Kleine Vorhänge baumelten rechts und links vom Bett herunter. Mama hatte ihm sogar eine winzige Drachenpuppe aus einem Lavendelsäckchen genäht.
Mittags schlief Lavundel. Nachmittags spielte Baby-Bo mit ihm, während Alexander und Anja Hausaufgaben machten. Es sah lustig aus, wie der kleine Drache ächzend mit beiden Armen einen Legostein nach dem anderen aufhob und zu dem Turm schleppte, den er und Baby-Bo bauten.
Alexander war sehr stark und sehr schnell. Klar, er war ja schon elf Jahre alt. Außerdem spielte er am liebsten Fußball. Deshalb musste er aufpassen, dass Lavundel nicht in den Garten entwischte. Die Nachbarn durften ihn ja nicht sehen.
Papas Aufgabe war das Einkaufen. Er schleppte unzählige Milchflaschen heran. Lavundel war zwar winzig, aber er trank Unmengen von Milch. Keiner konnte sich erklären, wie so viel Milch in einem so kleinen Bauch Platz finden konnte. Auf magische Weise schien das weiße Getränk in Lavundels weit aufgerissenem Rachen zu verschwinden.
Bei Anja war Lavundel besonders anhänglich. Er wartete jeden Tag sehnsüchtig darauf, dass sie mit den Hausaufgaben fertig wurde. Denn dann hatte sie Zeit für ihn. Sie hörten zusammen Musik und spielten mit Yasemin Fang den Hut . Dabei machte sich Lavundel einen Spaß daraus, sich eines der spitzen Hütchen aufzusetzen. Damit sah er aus wie ein kleiner Zauberer.
Nach ein paar Tagen konnte Lavundel schon ganze Sätze sagen, auch wenn er manchmal die Buchstaben durcheinanderbrachte. Bei ihm hieß „schimpfen“ nämlich „schumpfen“, „Lakritze“ war „Lakrutze“ und „Schinken“ hörte sich an wie „Schunken“. Yasemin, die fast jeden Tag zu Besuch da war, nannte er „Yasemun“, mit ganz langem U. Dabei konnte Lavundel sehr wohl ein I sprechen – wenn er wollte! „Iiiieh!“ und „Igitt!“, rief er zum Beispiel, wenn er Spinat oder Brokkoli auf einem Teller entdeckte. Auch das Wort „Eis“, konnte er ganz ohne Mühe rufen. Und er rief es oft. Milcheis mochte er zum Abendessen nämlich besonders gern, am liebsten ganz dick mit Lavendel bestreut.
Es war einmal …
Abends, wenn Mama und Papa Bo ins Bett brachten, hatten Anja und Lavundel ihre gemeinsame Lesestunde. Dann kuschelte sich Lavundel in sein Kissenbett, deckte sich mit einem karierten Taschentuch zu und krähte fröhlich: „Mörchen!“ Damit meinte er kein Möhrchen zum Essen, sondern ein Märchen.
Dann holte Anja das dicke Märchenbuch aus dem Regal. Sie blätterte von Märchen zu Märchen, bis Lavundel auf ein Bild deutete, das ihm gefiel. Diese Geschichte las sie ihm dann vor.
Auf diese Weise hatte Lavundel schon eine Menge Märchen gehört und dabei viele neue Wörter gelernt. Ganz besonders liebte er das listige Rumpelstilzchen und das tapfere Schneiderlein. Aber heute entdeckte er eine Zeichnung im Märchenbuch, die ihn furchtbar traurig machte: Ein Ritter auf einem Pferd kämpfte mit einer langen Lanze gegen einen Drachen!
Anja zuckte zusammen. Oh, Mist! Warum hatte sie nicht einfach das Märchen vom Drachentöter schnell überblättert? Vielleicht bekam Lavundel jetzt Angst? Rasch schlug Anja das Buch zu. „Wir passen doch auf dich auf!“, versicherte sie Lavundel. „Niemand wird dir etwas tun! Solche Ritter gibt es in Wirklichkeit gar nicht mehr.“
Aber Lavundels Laune war verdorben. Er verkroch sich unter seine Decke und wollte an diesem Abend kein Märchen mehr hören.
Auch am nächsten Tag war er weinerlich und unglücklich. Er schubste den Lupi-Löwen unwillig herum und stritt sich mit Baby-Bo. Das Gezeter der beiden schallte durchs ganze Haus, bis Mama für Ruhe sorgte. Selbst sein Milch-Lavendel-Eis rührte der kleine Drache nicht an.
„Vielleicht ist er krank?“, meinte Mama besorgt.
„Nein, nein, er hat sich gestern nur ein bisschen erschreckt“, erklärte Anja und seufzte. Sie holte leise das Märchenbuch und klebte die Seiten, auf denen der Drachenkampf
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