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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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seinen streichelnden Fingern spürte er die Glasoberfläche des Kristalls warm werden. Er starrte ins Dunkle, dorthin, wo seine Hände sein mussten, und dachte an den Doktor. Wie hatte der alte Mann so häufig lachen können, wo doch die Welt so voll verborgenen Verrates war – all die schönen Dinge innerlich verfault? Es gab so viele Schatten, so wenig …
    Vor ihm blitzte ein Nadelstich aus Licht auf – ein kleines Loch im Vorhang der Finsternis. Er rieb fester und starrte konzentriert auf den hellen Punkt. Das Licht blühte auf und schlug die Schatten zurück; auf beiden Seiten sprangen die Wände des Ganges hervor, mit glühendem Bernstein überpinselt. Luft schien in seine Lungen zu schießen. Er konnte sehen!
    Die kurze Hochstimmung verflog schnell, als er sich umdrehte, um den Gang in beide Richtungen zu überschauen. Kopfschmerz ließ die Wände vor seinen Augen verschwimmen. Der Tunnel war fast ohne jedes Merkmal, ein einsames Loch, das sich tief in die Unterseite der Burg grub, geschmückt mit bleichen Girlanden aus Spinnweben. Weiter oben im Gang bemerkte er eine Kreuzung, die er schon passiert hatte, einen in der Wand gähnenden Schlund. Er ging zurück. Ein schnelles Hineinleuchten mit dem Kristall zeigtehinter der Öffnung nur Mauerstücke und Geröll, eine schräge Abfallhalde, die aus der Reichweite des dünnen Kugellichtes hinausführte. Wie viel weitere Kreuzwege hatte er schon verpasst? Und woher sollte er wissen, welche die richtigen waren? Eine neue Welle würgender Hoffnungslosigkeit überflutete Simon. Er war hoffnungslos allein, hoffnungslos verirrt. Nie würde er in die Welt des Lichtes zurückfinden.
    Simon Pilgrim, Simon Mondkalb … Familie tot, Freund tot … seht ihn wandern und wandern … auf ewig …
    »Ruhe!«, knurrte er laut und hörte erschreckt, wie das Wort vor ihm den Weg hinunterrollte, ein Bote mit einer Bekanntmachung des Königs der Unterwelt: »Ruhe … Ruhe … Ru …«
    König Simon von den Tunneln begann seinen stolpernden Vormarsch.
    Der Gang wand sich abwärts ins steinerne Herz des Hochhorstes, ein erstickender, krummer Pfad, nur erhellt vom Glanz der Kristallkugel, die Morgenes gehört hatte. Dort, wo Simon vorübergegangen war, führten zerrissene Spinnennetze einen langsamen, gespenstischen Tanz auf; wenn er sich umsah, schienen die Fäden ihm nachzuwinken wie die knochenlosen Finger von Ertrunkenen. Strähnen von Seidenfäden hingen ihm im Haar und legten sich klebrig über sein Gesicht, sodass er beim Gehen die Hand vor die Augen halten musste. Oft fühlte er, wie etwas Kleines, Vielbeiniges über seine Hände davonhuschte, wenn er durch ein Netz brach. Dann musste er einen Augenblick mit gesenktem Kopf innehalten, bis das Zittern des Ekels nachließ, das ihn überfiel.
    Nach und nach wurde es kälter, und die Gangwände schienen Feuchtigkeit auszuatmen. Ein Teil des Tunnels war eingestürzt; an manchen Stellen lagen heruntergefallene Erde und Steine so hoch in der Mitte des Pfades aufgehäuft, dass er sich, den Rücken an die feuchten Wände gepresst, mühsam daran vorbeischieben musste.
    Genau das tat er – sich an einem Hindernis vorbeizwängen, die Licht spendende Hand über dem Kopf gehalten, mit der anderen vor sich nach dem Weg tastend –, als er einen stechenden Schmerz fühlte. Wie mit tausend Nadelstichen schoss der Schmerz durchdie suchende Hand und den Arm hinauf. Ein Aufblitzen des Kristalls zeigte Simon eine Bild des Grauens: Hunderte, nein, Tausende winziger weißer Spinnen, die über seine Hand schwärmten, in seinen Hemdsärmel quollen und bissen wie tausend brennende Feuer. Simon kreischte auf und schlug den Arm gegen die Tunnelwand. Ein Regen aus Erdklumpen ergoss sich in seinen Mund und die Augen. Seine Schreckensschreie hallten im Gang wider und erloschen schnell.
    Auf dem feuchten Boden sank er in die Knie und klatschte den stechenden Arm immer wieder auf die Erde, bis der brennende Schmerz allmählich nachließ. Dann kroch er auf Händen und Knien vorwärts, fort von dem scheußlichen Nest oder Brutplatz, dessen Ruhe er gestört hatte. Während er sich duckte und mit loser Erde wie wahnsinnig den Arm abrieb, kamen ihm von neuem die Tränen und schüttelten ihn, als würde er ausgepeitscht.
    Als er es über sich brachte, einen Blick auf seinen Arm zu werfen, zeigte das Licht des Kristalls unter dem Schmutz nur Rötungen und Schwellungen statt der blutigen Wunden, die er mit Bestimmtheit erwartet hatte. Der Arm pochte, und Simon fragte

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