Der Drachenbeinthron
bitte«, sagte er und reichte Simon das Bündel, worauf er wieder ans Fenster eilte. »Es ist mein ›leben König Johan Presbyters‹, und ich gönne Pryrates das Vergnügen nicht, Kritik daran zu üben.« Entgeistert nahm ihm Simon die Papiere aus der Hand und stopfte sie unter dem Hemd ins Gürtelband. Der Doktor griff in den Käfig und holte einen der kleinen Bewohner heraus, den er in der hohlen Hand barg. Es war ein winziger, silbergrauer Sperling.
Simon sah in sprachloser Verwunderung zu, wie der Doktor mit einem Stückchen Bindfaden ruhig das glänzende Schmuckstück – einen Ring? – an das Sperlingsbein schnürte. Am anderen Bein war bereits ein ganz schmaler Pergamentstreifen befestigt. »Sei stark mit deiner schweren Bürde«, sagte Morgenes leise und schien mit dem Vogel zu sprechen.
Genau über dem Riegel brach eine Axtschneide durch die schwere Tür. Morgenes bückte sich, hob einen langen Stock vom Boden auf und zerschlug das Oberlicht. Dann setzte er den Sperling aufs Fensterbrett und ließ ihn los. Der Vogel hüpfte einen Augenblick am Rahmen entlang, schwang sich dann in die Lüfte und verschwand im Abendhimmel. Auf die gleiche Art befreite der Doktor noch fünf weitere Sperlinge, bis der Käfig leer war.
Aus dem Mittelstück der Tür hatten die Äxte ein großes Stück herausgebissen. Dahinter konnte Simon die zornigen Gesichter und das grelle Fackellicht sehen.
Der Doktor winkte ihm. »Der Tunnel, Junge, schnell jetzt!« Hinter ihnen wurde ein weiteres zerfetztes Holzstück aus der Tür gerissen und polterte krachend zu Boden. Die beiden rannten durch das Zimmer. Der Doktor drückte Simon etwas Kleines und Rundes in die Hand.
»Reib das, dann hast du Licht!«, sagte er, »es ist besser als eine Fackel!« Er riss den Vorhang zur Seite und zerrte die Tür auf. »Nun los und beeil dich! Such die Tan’ja-Treppe, dort geht es nach oben!« Als Simon in die Mündung des Ganges hineinsprang, wandte Morgenes sich um.
»Aber Doktor!«, schrie Simon. »Kommt mit! Wir können zusammen entkommen!«
Der Doktor sah ihn an und schüttelte lächelnd den Kopf. Mit dem lauten Klirren zerbrechenden Glases kippte der vor die Tür geschobene Tisch um, und ein Trupp Bewaffneter in Grün und Gelb drängte sich in den Raum. Inmitten der Erkyngarde stand geduckt wie eine Kröte in einem Garten aus Schwertern und Äxten Breyugar, der Oberste der Wachen. Im von Splittern übersäten Gang war Inchs massige Gestalt zu erkennen; hinter ihm blitzte scharlachrot Pryrates’ Mantel.
»Halt!«, donnerte eine Stimme durch den Raum – bei aller Furcht und Verwirrung brachte Simon es noch fertig, sich zu wundern, dass ein solcher Ton aus Morgenes’ gebrechlichem Körper kommen konnte. Jetzt stand der Doktor vor der Erkyngarde, die Finger in seltsamer Gebärde gespreizt. Zwischen ihm und den verblüfften Soldaten begann die Luft sich zu biegen und zu schimmern. Die schiere Substanz des Nichts schien sich unter Morgenes’ Händen, die in wunderlichen Mustern tanzten, zu verfestigen. Einen Moment lang beleuchteten die Fackeln vor Simons Augen eine Szene, starr wie das Bild auf einem uralten Wandteppich.
»Gott segne dich, Junge«, zischte Morgenes, »aber jetzt weg mit dir! Sofort!« Simon machte einen weiteren Schritt in den Gang hinein.
Pryrates drängte sich an der benommenen Wache vorbei, ein verschwommener roter Schatten hinter der Mauer aus Luft. Eine seiner Hände stieß vor wie ein Dolch; ein brodelndes, funkelndes Netz blauer Funken zeigte an, wo sie die dichter werdende Luft berührte. Morgenes taumelte zurück, und seine Barriere begann zu schmelzen wie eine Eisscholle. Der Doktor bückte sich und riss aus einem Gestell am Boden zwei Glaspokale.
»Haltet den Jungen!«, schrie Pryrates, und plötzlich konnte Simon über dem Scharlachmantel seine Augen sehen … kalte schwarze Augen, die ihn festzuhalten schienen … ihn aufspießten …
Die schimmernde Luftscheibe zerfloss. »Ergreift sie!«, donnerte Graf Breyugar, und die Soldaten stürmten vorwärts. Simon beobachtete das Ganze gelähmt. Er wollte davonlaufen, konnte aber nicht, und zwischen ihm und den Schwertern der Erkyngarde stand nichts als … Morgenes.
»ENK I ANNUKHAI SHI’IGAO !« Die Stimme des Doktors dröhnte und läutete wie eine steinerne Glocke. Ein Windstoß kreischte durch das Zimmer und löschte die Fackeln aus. Mitten im Strudel stand Morgenes, in beiden ausgestreckten Händen je einen Pokal. In einem kurzen Augenblick fast völliger
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