Der Drachenbeinthron
Elias.
Pryrates schritt nach vorn und packte Breyugar beim Kragen. Er zerrte ihn zu der Sargtruhe und ließ ihn dort fallen. Dann öffnete der Priester die Schnalle seines Mantels. Sein rotes Gewand loderte in stumpfer Flamme. Aus den inneren Falten zog er eine lange, sichelförmig gekrümmte Klinge hervor. Er richtete den Blick auf den nördlichsten Punkt der Steinringe, hob die Klinge an die Augen und begann feierlich zu intonieren, während seine Stimme immer lauter und gebieterischer wurde:
An den Dunklen, den Herrn dieser Welt,
der über den nördlichen Himmel schreitet:
VASIR SOMBRIS , FEATA CONCORDIN !
An den Schwarzen Jäger,
Besitzer der eisigen Hand:
VASIR SOMBRIS , FEATA CONCORDIN !
An den Sturmkönig, den Weitausgreifenden,
Bewohner des Steinernen Berges,
den Erfrorenen und Brennenden,
den Schlafenden, der erwacht ist:
VASIR SOMBRA , FEATA CONCORDIN !
Die schwarzgewandeten Gestalten wiegten ihre Körper hin und her – außer dem einen auf dem Wagen, der so still dasaß wie die Zornsteine –, und ein Zischen stieg aus ihrer Mitte und vermischte sich mit dem Wind, der sich von neuem erhoben hatte.
Und Pryrates’ Stimme tönte erneut:
Höre nun den an, der zu dir fleht,
den Käfer unter deinem schwarzen Absatz;
die Fliege zwischen deinen kalten Fingern;
den wispernden Staub in deinem unendlichen Schatten –
Oveiz mei! Höre mich!
Timior cuelos exaltat mei!
SCHATTENVATER – LASS DEN HANDEl BESIEGElT SEIN!
Schlangenschnell zuckte die Hand des Alchimisten nach unten und griff nach Breyugars Kopf. Aber der Graf, der eben noch schlaff vor Pryrates’ Füßen gelegen hatte, riss sich plötzlich los und taumelte vorwärts – fort von dem verblüfften Priester, der nur noch eine blutige Haarsträhne in der Hand hielt.
Hilflos sah Simon zu, wie der Graf mit aufgerissenen Augen direkt auf sein Versteck zutorkelte. Undeutlich vernahm er Pryrates’ zornige Rufe. Die Nacht, die ihn so eng umschloss, zog sich noch mehr zusammen, erstickte seinen Atem und ließ es ihm schwarz vor Augen werden. Ein paar von den Wachen sprangen hinter Breyugar her.
Der Graf war nur noch wenige Schritte entfernt. Mit seinen gebundenen Händen lief er unbeholfen, stolperte und fiel. Er strampelte mit den Beinen, und sein Atem kam geräuschvoll wie eine Säge hinter dem Knebel hervor. Die Wachen fielen über ihn her. Simon hatte sich hinter dem Stein, der ihn verbarg, in eine halb hockendeStellung erhoben, und sein müdes Herz hämmerte, als wolle es bersten. Verzweifelt strengte er sich an, die schlotternden Beine ruhig zu halten. Die Wachen, zum Greifen nahe, rissen Breyugar mit fürchterlichen Flüchen auf die Füße. Einer der Männer hob das Schwert und versetzte dem Widerspenstigen einen Hieb mit der flachen Klinge. Simon konnte Pryrates sehen, der aus dem Lichtkreis herüberstarrte, das aschfarbene, gebannte Gesicht des Königs neben sich. Als Breyugars schlaffe Gestalt zum Feuer zurückgezerrt wurde, blickte Pryrates noch immer mit schmalen Augen nach der Stelle, an der der Graf gestürzt war.
Wer ist dort?
Die Stimme schien auf dem Rücken des Windes senkrecht in Simons Kopf zu fliegen. Pryrates starrte ihm genau in die Augen! Er musste ihn sehen!
Komm heraus, wer du auch bist. Ich befehle dir, herauszukommen.
Die Gestalten in den schwarzen Gewändern stimmten ein fremdartiges, drohendes Summen an, und Simon kämpfte gegen den Willen des Alchimisten. Er dachte an das, was ihm um ein Haar in dem Lagerraum widerfahren war, und stemmte sich gegen die zwingende Kraft; aber er war geschwächt, ausgelaugt wie ein alter Lappen.
Komm heraus, wiederholte die Stimme, und etwas Suchendes griff nach ihm und wollte sein Bewusstsein berühren. Simon wehrte sich, versuchte die Türen seiner Seele geschlossen zu halten; aber das, was in ihn eindringen wollte, war stärker als er. Es brauchte ihn nur zu finden, ihn zu packen …
»Wenn der Bund nicht mehr eure Billigung findet«, sagte plötzlich eine dünne Stimme, »dann wollen wir jetzt damit ein Ende machen. Es ist gefährlich, das Ritual unvollständig zu lassen – sehr gefährlich.«
Es war der Verhüllte, der da sprach, und Simon konnte fühlen, wie die suchenden Gedanken des roten Priesters erschüttert wurden.
»W-was?«, fragte Pryrates wie ein soeben Erwachter.
»Vielleicht verstehst du nicht, was du hier tust«, zischte das schwarze Wesen. »Vielleicht begreifst du nicht, um wen und um was es hier überhaupt geht.«
»Nein … doch, ich weiß es
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