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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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lag, in aller Ruhe? Jetzt ist gar nichts mehr in meinem Kopf, nur noch ein Wirrwarr aus Worten. War ich gern in der Burg? Habe ich dort geschlafen, bin ich herumgelaufen, habe ich gegessen und geredet und …?
    Nein, ich glaube nicht. Ich bin wohl immer unter dem Mond – diesem weißen Gesicht – durch die Grashügel gewandert wie der armselige, einsame Geist eines Mondkalbs, gewandert und gewandert …
    Das plötzliche Aufzucken einer Flamme auf dem Gipfel des Berges unterbrach seine düsteren Fantasien. Schon seit einiger Zeit stieg der Boden ständig an, und Simon war fast am Fuß des finsteren Thisterborgs angekommen. Die hohen Bäume, die den Berg wie ein Mantel umgaben, standen als massive, undurchdringliche Wand der Dunkelheit vor der Erhebung. Jetzt leuchtete auf dem Kamm des Berges ein Feuer auf, ein Zeichen des Lebens inmitten der Grashügel und der Feuchtigkeit über Jahrhunderten des Todes. Simon setzte sich in einen langsamen Trab, der das Äußerste war, was er in seiner augenblicklichen Verfassung fertigbrachte. Vielleicht war es ein Hirtenfeuer, ein fröhlicher Brand, um die Nacht in ihre Schranken zu weisen.
    Vielleicht haben sie ja etwas zu essen! Eine Hammelkeule … einen Kanten Brot …
    Er musste sich vorbeugen. Seine Eingeweide verkrampften sich beim bloßen Gedanken an Essen. Wie lange war es her? Erst seit dem Abendbrot? Erstaunlich, wenn man darüber nachdachte.
    Und selbst wenn sie nichts zu essen haben, wie herrlich wird es sein, einfach nur Stimmen zu hören, sich an einem Feuer zu wärmen … einem Feuer …
    Jäh sprang eine Erinnerung an hungrige Flammen vor sein geistiges Auge und brachte eine andere Art von Leere mit sich.
    Durch Bäume und wirres Gestrüpp kletterte er bergan. Der ganze Fuß des Thisterborgs war von Nebel umwallt, als sei der Berg eine Insel, die sich aus einem spinnwebgrauen Meer erhob. Simon näherte sich dem Gipfel und erkannte die roh geformten Silhouetten der Zornsteine, die die letzte Höhe krönten. Rot war ihr Umriss in den Himmel geätzt.
    Mehr Steine. Steine und noch mehr Steine. Wie hat der Doktor sie genannt, diese Nacht – sofern es wirklich noch derselbe Mond war und dieselbe Dunkelheit, die dieselben matten Sterne wiegte –, wie hat Morgenes sie noch gleich genannt?
    Steinigungsnacht!
    Das klang, als ob die Steine selbst sie feierten. Als ob die Steine, während Erchester hinter geschlossenen Fensterläden und verriegelten Türen im Schlummer lag, ein Fest veranstalteten. In seinen müden Gedanken konnte Simon sie sehen, wie sie gewichtig daherschritten, die feiernden Steine, wie sie sich verbeugten und drehten … sich langsam im Kreis drehten …
    Trottel! , dachte er. Bist du denn so verwirrt? Es wäre allerdings auch kein Wunder. Du brauchst etwas zu essen und Schlaf, sonst wirst du noch wirklich verrückt – was immer das bedeutete: wirklich verrückt zu werden … war man dann ständig zornig? Ganz ohne Angst? Er hatte einmal auf dem Platz der Schlachten eine Irre gesehen, aber sie hatte nur ein Lumpenbündel umklammert und sich hin- und hergewiegt und dabei klagend geschrien wie eine Möwe.
    Wahnsinnig unter dem Mond. Ein wahnsinniges Mondkalb!
    Simon hatte die letzte, sich rings um den Berggipfel ziehende Baumreihe erreicht. Die Luft war still, als warte sie auf etwas; er spürte, wie seine Haare sich sträubten. Plötzlich kam es ihm vernünftiger vor, ganz leise zu gehen und sich diese Hirten in der Nacht erst einmal aus der Distanz anzusehen, anstatt plötzlich aus dem Unterholz hervorzubrechen wie ein wütender Eber. Er duckte sich unter die krummen Glieder einer windzerstörten Eiche und pirschte sich näher an das Licht heran. Unmittelbar über ihm ragten die Zornsteine auf, konzentrische Ringe hoher, vom Sturm gemeißelter Säulen.
    Jetzt erkannte er eine Ansammlung menschlicher Gestalten, dieinmitten der Steinringe um das tanzende Feuer standen, die Mäntel eng über die Schultern gezogen. Irgendetwas an ihnen wirkte steif, als wären sie beunruhigt und warteten auf etwas, mit dem sie zwar rechneten, das sie jedoch nicht unbedingt herbeisehnten. Im Nordwesten, hinter den Steinen, wurde das Plateau des Thisterborgs schmaler. Dort schmiegten sich windgepeitschtes Gras und Heidekraut dicht an den abfallenden Boden, der sich hinter den Steinen erstreckte und endlich am nördlichen Rand des Berges aus der Reichweite des Feuerscheins verschwand.
    Simon starrte die regungslosen Figuren am Feuer an und fühlte, wie sich die Last der

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