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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hinter dem Kopf. Er hatte lange geschlafen; die strahlende Sonne stand fast senkrecht über ihm. In ihrem Schein glühten die Haare auf seinen Unterarmen wie geschmolzenes Kupfer; die Spitzen seiner zerrissenen Schuhe schienen so weit entfernt, dass er sie sich fast als Gipfel ferner Berge vorstellen konnte.
    Ein jäher, kalter Erinnerungssplitter stach in seine Schläfrigkeit. Wie kam er hierher? Was …?
    Ein dunkler Schatten an seiner Schulter brachte ihn hastig auf die Knie; beim Umdrehen sah er hinter sich das Massiv des Thisterborgs, in einen Mantel aus Bäumen gehüllt, keine halbe Meile entfernt. Jede Einzelheit war überwältigend klar, ein scharfkantiges Muster; ohne das quälende Pochen seines Gedächtnisses hätte der Berg angenehm und kühl wirken können, ein freundlicher Hügel, der sich aus den Bäumen erhob, die ihn umringten, mit Schatten und hellgrünem Laub bebändert. Oben auf dem Kamm standen die Zornsteine, mattgraue Punkte im blauen Himmel.
    Ein Nebeltraum verdarb auf einmal den munteren Frühlingstag: Was war letzte Nacht geschehen?
    Natürlich, er war aus der Burg geflohen – diese Augenblicke, die letzten mit Morgenes, hatten sich ihm tief ins Herz gebrannt; aber danach? Woher kamen diese Alptraumerinnerungen? Endlose Tunnel? Elias? Ein Feuer und weißhaarige Dämonen?
    Träume – törichte, böse Träume. Entsetzen und Müdigkeit und noch mehr Entsetzen. Nachts bin ich über den Friedhof gerannt, schließlich noch hingefallen, eingeschlafen, habe geträumt.
    Aber diese Tunnel und … ein schwarzer Sarg? Simon tat immer noch der Kopf weh, aber er hatte gleichzeitig ein merkwürdiges Gefühl von Taubheit, als hätte man Eis auf eine Verletzung gelegt. Der Traum war so wirklich gewesen. Jetzt schien er weit weg, ungreifbar und sinnlos – ein dunkler Anfall von Furcht und Schmerz, der verwehen würde wie Rauch, wenn Simon es zuließ – wenigstens hoffte er das. Er drängte die Erinnerungen in sein Inneres hinab, vergrub sie, so tief er konnte, und schloss seinen Geist über ihnen wie einen Truhendeckel.
    Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte …
    Die helle Sonne des Belthainntages hatte ein paar von den Knoten in seinen Muskeln geglättet, aber er spürte immer noch den Schmerz … und großen Hunger. Mühsam und steif stand er auf und klopfte das an seinen schlammverschmierten, zerfetzten Kleidern haftende Gras ab. Noch einmal sah er verstohlen zum Thisterborg hinüber. Schwelte dort oben zwischen den Steinen wirklich die Asche eines großen Feuers? Oder hatten die furchtbaren Ereignisse des Vortages ihn für eine Weile in den Wahnsinn getrieben?
    Der Berg stand ausdruckslos da. Simon wollte gar nicht wissen, welche Geheimnisse unter seinem Mantel aus Bäumen lauerten oder in der steinernen Krone nisteten. Es gab schon zu viele Lücken in seinem Gedächtnis, die es auszufüllen galt.
    Also kehrte er dem Thisterborg den Rücken zu und blickte über die Hügel in Richtung der dunklen Vorhut des Forstes. Während er so über die weite Fläche offenen Landes schaute, fühlte er, wie großer Kummer in ihm aufstieg – und heftiges Mitleid mit sich selbst. Er war so allein! Alles hatte man ihm genommen, ihn ohne Heimat oder Freunde zurückgelassen. Vor Wut klatschte er in die Hände, dass die Handflächen brannten. Später! Später würde er weinen; jetzt musste er ein Mann sein. Aber es war alles so grässlich ungerecht!
    Er atmete tief ein und aus, dann schaute er wieder auf die fernen Wälder. Irgendwo an dieser dünnen Schattenlinie, das wusste er, verlief die Alte Forststraße. Sie rollte viele Meilen an Aldheortes Südrand entlang, manchmal in einigem Abstand, manchmal auch eng an die alten Bäume geschmiegt wie ein anhängliches Kind. An anderen Stellen wagte sie sich sogar unter das Vordach des Waldes und schlängelte sich durch dunkle Lauben und schweigende, von Sonnenpfeilen durchbohrte Lichtungen. Ein paar kleine Dörfer und hier und da ein Rasthaus duckten sich in den Schatten des Waldes.
    Vielleicht kann ich irgendeine Arbeit finden – um mir wenigstens eine Mahlzeit zu verdienen. Ich fühle mich so hungrig wie ein Bär … und zwar einer, der gerade eben aufgewacht ist. Völlig ausgehungert! Ich habe nichts mehr gegessen seit … bevor … bevor …
    Er biss sich hart auf die Lippe. Alles, was er tun konnte, war loszumarschieren.
    Die Berührung der Sonne war wie eine Segnung. Sie wärmte den wunden Körper und schien zugleich einen kleinen Einschnitt in das enge, quälende

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