Der Drachenbeinthron
Ookequks Weisheit teilen sollte – ich nahm drei Tage kein Essen zu mir, als man es mir sagte, nur um die richtige Reinheit zu erlangen.« Binabik lächelte. »Als ich das voller Stolz meinem neuen Meister erzählte, schlug er mich aufs Ohr. ›Du bist zu jung und zu dumm, um dich vorsätzlich auszuhungern‹, sagte er zu mir. ›Es ist Hochmütigkeit. Verhungern darfst du nur zufällig.‹«
Binabiks Grinsen wurde breiter und verwandelte sich in Gelächter; als Simon einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, lachte auch er ein wenig.
»Auf jeden Fall«, fuhr Binabik fort, »werde ich dir eines Tages von meinen Jahren des Lernens bei Ookequk erzählen – er war ein großer, fetter Troll, Simon, der mehr wog als du und doch nur so hoch war wie ich –, jetzt müssen wir leider schneller zur Sache kommen.
Ich weiß nicht mit Genauigkeit, wann mein Meister Morgenes das erste Mal begegnete, doch es war lange, bevor ich in seine Höhle kam. Sie waren aber Freunde, und mein Meister lehrte Morgenes die Kunst, Botschaften von Vögeln überbringen zu lassen. Sie hatten viele Gespräche in Briefen, mein Meister und dein Doktor. Sie hatten viele gemeinsame … Vorstellungen über den Lauf der Welt.
Vor gerade zwei Sommern kamen meine Eltern ums Leben. Ihr Tod geschah im Drachenschnee des Berges, den wir die Kleine Nase nennen, und als sie nicht mehr da waren, widmete ich all mein Denken – oder doch fast alles – dem Lernen von Meister Ookequk. Als er mir letztes Tauwetter sagte, ich sollte ihn auf einer großen Reise nach Süden begleiten, war ich voller Aufregung. Es schien mir ganz klar, dass das die Prüfung meiner Würdigkeit sein sollte.
Was ich allerdings nicht wusste«, fuhr der Troll fort und stocherte mit seinem Wanderstab vor sich im lehmigen Gras – fast zornig, dachte Simon, aber es lag kein Zorn in Binabiks Stimme –, »was ich nicht erfuhr, war, dass Ookequk wichtigere Reisegründe hatte als den Abschluss meiner Lehrzeit. Er hatte Nachricht von Doktor Morgenes erhalten … und von einigen anderen … über Dinge, die ihn beunruhigten, und er fand, es sei Zeit, den Besuch zu erwidern, den Morgenes ihm vor langen Jahren gemacht hatte, als ich gerade neu zu ihm gekommen war.«
»Was für ›Dinge‹?«, fragte Simon. »Was hatte ihm Morgenes mitgeteilt?«
»Wenn du es noch nicht weißt«, meinte Binabik ernst, »dann gibt es vielleicht noch Wahrheiten, die du nicht zu erfahren brauchst. Darüber muss ich nachdenken, aber für jetzt lass mich erzählen, was ich kann.«
Simon, zurückgewiesen, nickte steif.
»Ich will dich auch nicht mit der langen Geschichte unserer Reise nach Süden belasten. Mir wurde schon sehr bald klar, dass mein Meister mir auch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Er machte sich Sorgen, große Sorgen, und wenn er die Knochen warf oder bestimmte Zeichen am Himmel und im Wind las, wurden sie noch größer. Außerdem hatten wir ein paar äußerst üble Erlebnisse. Du weißt ja, dass ich schon viel allein gereist bin, größtenteils bevor ich der Diener meines Meisters wurde; nie aber habe ich so schlechte Zeiten für Reisende gesehen. Ein Abenteuer ganz ähnlich dem deinen letzte Nacht hatten auch wir, gerade unterhalb des Drorshull-Sees in der Frostmark.«
»Du meinst diese … Bukken?«, fragte Simon. Selbst am hellen Tage war der Gedanke an die krallenden Hände grauenvoll lebendig.
»Allerdings«, nickte Binabik, »und das war … ist … ein schlechtes Zeichen, dass sie so angreifen. Es ist nicht in der Erinnerung meines Volkes, dass die Boghanik, so lautet unser Name für sie, eine Gruppe bewaffneter Männer überfallen, und das auf so furchterregende Weise. Ihre übliche Gewohnheit ist, Tieren und einzelnen Reisenden aufzulauern.«
»Was sind sie?«
»Später, Simon, wirst du vieles lernen, wenn du Geduld mit mir hast. Auch mein Meister hat mir nicht alles gesagt – womit ich nicht meine, bitte beachte, dass ich dein Meister wäre –, aber er war in größter Unruhe. Auf unserer ganzen Reise durch die Frostmark habe ich ihn nicht schlafen sehen. Wenn ich einschlief, war er immer noch wach, und der Morgen fand ihn vor mir auf den Beinen. Und er war nicht mehr jung; schon als ich zu ihm kam, war er alt, und ich war mehrere Jahre bei ihm und studierte.
Eines Tages, als wir endlich die nördliche Grenze zum Erkynland überschritten hatten, bat er mich, Wache zu stehen, damit er die Straße der Träume gehen konnte. Wir waren an einem Ort ganz ähnlich diesem hier«,
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