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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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würdigen, aber wir ziehen es vor, mit dem Volk zu gehen.«
    Das anstoßerregende Transportmittel wurde eiligst fortgeschafft, und der Lektor schritt auf die überfüllte Kynslagh-Treppe zu. Als er das Zeichen des Baumes machte – Daumen und kleiner Finger wie ineinander gehakte Zweige, dazu ein senkrechter Strich mit den Mittelfingern –, öffnete die unruhige Menge langsam einen Durchgang, der über die ganze Länge der großen Treppe reichte.
    »Lauft bitte nicht so schnell, Meister«, sagte Dinivan und schob sich an ausgestreckten, winkenden Armen vorbei. »Ihr überholt sonst noch Eure Wachen.«
    »Und woher weißt du« – Ranessin ließ, so schnell, dass niemand außer Dinivan es sah, ein neckendes Lächeln über sein Gesicht huschen –, »dass es nicht genau das ist, was ich vorhabe?«
    Dinivan fluchte ganz leise und bereute sofort diese Schwäche. Der Lektor war bereits einen Schritt voraus, und die Menge drängte nach. Zum Glück frischte der Wind aus Richtung der Docks jetzt kräftig auf, sodass Ranessin gezwungen war, langsamer zu gehen. Mit der freien Hand umklammerte er seinen Hut, der fast so dünn, hoch und bleich aussah wie Seine Heiligkeit selbst. Als Vater Dinivan merkte, dass der Lektor leicht schräg im Wind zu liegen begann, schob er sich eilig weiter. Er holte den Älteren ein und packte ihn energisch am Ellbogen.
    »Vergebt mir, Meister, aber Escritor Velligis würde es nie verzeihen, wenn ich Euch in den See fallen ließe.«
    »Natürlich, mein Sohn«, nickte Ranessin und formte, während die beiden weiter die lange, breite Treppe hinaufstiegen, immer wieder nach beiden Seiten das Zeichen des Baumes in der Luft. »Ich habe nicht genügend nachgedacht. Du weißt ja, wie sehr ich diesen unnötigen Pomp verachte.«
    »Aber Lektor«, wandte Dinivan milde ein und hob mit dem Ausdruck gespielter Überraschung die buschigen Augenbrauen, »Ihr seid Usires Ädons weltliche Stimme. Es schickt sich nicht, dass Ihr hier die Stufen hinaufrennt wie ein Seminarschüler.«
    Dinivan war enttäuscht, dass diese Worte nur ein schwaches Lächeln auf dem Gesicht Seiner Heiligkeit hervorriefen. So kletterten sie in wortlosem Gleichschritt aufwärts, und der jüngere Mann hielt weiter den Arm des älteren in schützendem Griff.
    Armer Dinivan, dachte Ranessin. Er gibt sich solche Mühe und ist so achtsam. Nicht, dass er mich – immerhin den Lektor der Mutter Kirche – nicht mit einer gewissen Respektlosigkeit behandelte. Natürlich tut er das, weil ich es ihm erlaubt habe – zu meinem eigenen Besten. Aber heute bin ich nicht in heiterer Stimmung, und er weiß das.
    Selbstverständlich war Johans Tod der Grund – aber es war nicht nur der Verlust eines guten Freundes und hervorragenden Königs; es war die damit verbundene Veränderung, und die Kirche in Gestalt von Lektor Ranessin konnte es sich nicht erlauben, der veränderten Situation allzu leichtfertig Vertrauen zu schenken. Natürlich bedeutete es auch den Abschied – nur in dieser Welt, erinnerte der Lektor sich selbst energisch – von einem Mann, der ein gutes Herz und guteAbsichten gehabt hatte, auch wenn er bei der Ausführung seiner Pläne nicht selten etwas zu gradlinig vorgegangen war. Ranessin schuldete Johan viel, und nicht das Geringste davon war, dass der Einfluss des Königs bei der Erhebung des einstigen Oswin von Stanshire in die Höhen der Kirche und schließlich sogar zum Amt des Lektors, das fünf Jahrhunderte von keinem Erkynländer mehr bekleidet worden war, eine große Rolle gespielt hatte. Man würde den König sehr vermissen.
    Allerdings setzte Ranessin Hoffnungen auf Elias. Der Prinz war unzweifelhaft mutig, entschlusskräftig, kühn – sämtlich Eigenschaften, die Söhne großer Männer nur selten besitzen; freilich war er auch jähzornig und ein wenig unbedacht, aber das – Duos wulstei – waren Fehler, die durch die Verantwortung und durch guten Rat oft geheilt oder doch zumindest gemildert wurden.
    Als er den oberen Treppenabsatz erreicht und mit seinem hinterherkeuchenden Gefolge den Königsweg betreten hatte, der um die Mauern von Erchester herumführte, nahm der Lektor sich vor, dem neuen König einen zuverlässigen Ratgeber zu stellen, der ihm helfen – und natürlich mit wachsamem Auge auf das Wohl der Kirche achten – sollte. Jemanden wie Velligis oder den jungen Dinivan – nein, von Dinivan würde er sich nicht trennen. Auf jeden Fall wollte Ranessin einen Mann finden, der ein Gegengewicht zu Elias’

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