Der Drachenbeinthron
folgte ihm schweigend durch den von Lampen erhellten Korridor.
Schwere Vorhänge verdeckten die Fenster. Als seine Augen sich an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnten, konnte Simon zunächst kein Anzeichen eines Besuchers feststellen. Dann aber erkannte er eine undeutliche Gestalt, die auf einer großen Seekiste in der Ecke saß.
Der Mann im grauen Mantel blickte zu Boden. Sein Gesicht war verhüllt, aber der Junge erkannte ihn trotzdem.
»Verzeiht, mein Prinz«, sagte Morgenes, »das ist Simon, mein neuer Lehrling.«
Josua Ohnehand schaute auf. Seine blassen Augen – waren sie blau … oder grau? – streiften Simon mit uninteressiertem Ausdruck, so wie ein Hyrkahändler ein Pferd betrachten würde, das er nicht zu kaufen beabsichtigt. Nach kurzer Musterung wandte der Prinz seine Aufmerksamkeit wieder Morgenes zu, so vollständig, als sei Simon gar nicht mehr vorhanden. Der Doktor forderte den Jungen mit einer Handbewegung auf, in der entgegengesetzten Ecke des Raumes zu warten.
»Hoheit«, fuhr er dann fort, »ich fürchte, dass ich hier nichts mehr tun kann. Meine Kunst als Arzt und Apotheker ist am Ende.« Nervös rieb sich der alte Mann die Hände. »Vergebt mir. Ihr wisst, dass ich den König liebe und es mir furchtbar ist, ihn leiden zu sehen, aber … aber es gibt Dinge, in die sich Menschen wie ich nicht einmischen sollten – zu viele Möglichkeiten, zu viele unvorhersehbare Folgen. Zu diesen Dingen gehört auch die Weitergabe eines Königreiches.«
Morgenes, den Simon noch nie in solcher Stimmung erlebt hatte, zog einen Gegenstand an goldener Kette aus dem Gewand undfingerte erregt daran herum. Soweit Simon wusste, hatte der Doktor, der nur allzu gern über Prahlerei und Zurschaustellung schimpfte, niemals irgendwelchen Schmuck getragen.
»Aber, bei Gottes Fluch, ich bitte Euch doch nicht, in die Thronfolge einzugreifen!« Josuas ruhige Stimme war gespannt wie eine Bogensehne. Simon fühlte sich überaus unwohl, Zeuge eines derartigen Gespräches zu sein, aber er konnte nirgendwo hingehen, ohne noch mehr aufzufallen.
»Ich habe Euch nicht gebeten, Euch in irgendetwas ›einzumischen‹, Morgenes«, sprach Josua weiter, »nur gebt mir etwas, das dem alten Mann die letzten Augenblicke leichter macht. Ob er nun morgen stirbt oder erst nächstes Jahr, Elias wird Hochkönig, und ich bin immer noch Lehnsherr von Naglimund und von nichts anderem.« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Denkt doch an den uralten Bund zwischen Euch und meinem Vater – Euch, der Ihr sein Heiler gewesen seid und seit Dutzenden von Jahren sein Leben studiert und aufgezeichnet habt!« Josua fuhr mit der Hand in Richtung eines Stapels loser Buchblätter, die auf dem wurmstichigen Schreibtisch des Doktors aufgeschichtet lagen.
Über das Leben des Königs geschrieben?, dachte Simon verwundert. Das war das erste Mal, dass er davon hörte. Morgenes schien heute voller Geheimnisse zu stecken.
Josua gab noch nicht auf. »Habt Ihr denn kein Mitleid? Er ist wie ein in die Enge getriebener alter Löwe, ein großes Tier, niedergestreckt von Schakalen! Süßer Usires, es ist so ungerecht …«
»Aber, Hoheit«, setzte der Doktor gerade an, als allen dreien im Raum plötzlich das Geräusch hastiger Schritte und Stimmen draußen im Hof bewusst wurde. Josua, bleich und mit fiebrigem Blick, war sofort aufgesprungen und hatte das Schwert so schnell gezogen, dass es aussah, als sei es von selbst in seine Hand geflogen. Ein lautes Hämmern erschütterte die Tür. Morgenes wollte öffnen, doch ein Zischen des Prinzen hielt ihn zurück. Simon fühlte sein Herz rasen. Josuas sichtliche Furcht steckte ihn an.
»Prinz Josua! Prinz Josua!«, rief jemand, und das Pochen begann von neuem. Mit schneller Bewegung schob Josua das Schwert in die Scheide zurück, trat an Morgenes vorbei in den Gang desStudierzimmers und riss die Tür auf. Vier Gestalten standen unter dem Vordach zum Hof; drei von ihnen gehörten zu seinen eigenen grau uniformierten Soldaten, der letzte, der jetzt vor dem Prinzen das Knie beugte, war mit einem glänzend weißen Gewand und Sandalen bekleidet. Wie im Traum erkannte Simon ihn als Sankt Tunath, längst verstorbenes Motiv zahlloser frommer Gemälde. Was mochte das bedeuten?
»Ach, Hoheit …«, begann der kniende Heilige und hielt inne, um Atem zu holen. Simons Mund, der sich schon zum Grinsen verziehen wollte, als er begriff, dass der Mann auch nur ein Soldat und lediglich verkleidet war, um bei den Festlichkeiten des heutigen
Weitere Kostenlose Bücher