Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
im Tempel unterrichtet, die Kinder der Knechte, Mägde und Diener kamen nur selten. Als Kind galt in Trollfurt jeder, der noch nicht siebzehn Jahre zählte und noch keine Flasche heiligen Schnees vom Gipfel des zerklüfteten Torregg geholt hatte, ihn in der Sonne geschmolzen und rituell mit dem Bürgermeister und Priester getrunken hatte. Ben wurde im Herbst sechzehn, nächstes Jahr also würde er endlich zum Erwachsenen werden. Den Torregg hatte er schon mehrmals erklommen, obwohl es Kindern eigentlich untersagt war.
Fein rausgeputzt in Feiertagskleidung und sauber gekämmt saßen die Kinder Trollfurts auf den harten Bänken in der vorderen Halle und ließen die Worte des Priesters Habemaas über sich ergehen. Ben war schon vor dem Tod seiner Mutter nur unregelmäßig zum Sonntagsunterricht gegangen, und dann in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht mehr. Er hatte weder das nötige Schulgeld noch die Lust dazu.
Viel lieber legte er sich neben dem Tempel ins Gras, ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen und lauschte auf die Worte, die aus den hohen Fenstern nach draußen drangen. Langweilte ihn das Gerede des Priesters, dachte er an etwas anderes oder zog ein paar Würmer aus der Erde, um sie später als Köder zu verwenden. Doch die meisten Sagen gefielen ihm, und er hörte gern zu. Von hier draußen, wo ihm niemand sagte, er solle gerade sitzen und sich nicht am Hintern kratzen und dergleichen, und wo er auch keine Fragen beantworten musste. Das hasste er, ihn interessierten oft andere Dinge an einer Geschichte als den Priester, und er wusste
nie, worauf dieser mit seinen Fragen hinauswollte. Außerdem war es schön zu wissen, dass alle Kinder im Tempel neidisch zu ihm hinaussahen. Auch wenn sie ihn sonst verlachten und auf ihn herabsahen, in diesem Moment wären sie alle gern an seiner Stelle.
Ben lag im Gras und hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Im Tempel wurde eben noch das Opfergeld eingesammelt, und der Priester stellte allen die drei neuen Geschwister in der Stadt vor: die beiden Söhne und die Tochter des neuen Minenbesitzers Yirkhenbarg. Die Namen der Kinder vergaß Ben sofort wieder, er merkte sich nur, dass es demnach nicht nur einen von dieser hochnäsigen Brut gab.
»Heute erzähle ich euch, wie der dunkle Samoth die Drachen verdarb«, sagte der Priester kurz darauf mit seiner tiefen, weichen Stimme, »und wie ein mutiger Mann den Fluch wieder von ihnen nahm.«
Diese Sage mochte Ben besonders, und egal, wie gut er sie schon kannte, er konnte sie immer wieder hören. Von Geschichten über Drachen bekam er einfach nie genug.
Der Priester begann:
In den Tagen, als Hellwah, der Sonnengott und höchste aller Götter, die Menschen und Drachen und alle Tiere der Erde geschaffen hatte, da lebten die Götter noch mitten unter ihren Kreaturen. Und sie sprachen offen und freundlich mit allen Menschen. Manche der Götter wohnten sogar dem einen oder anderen Menschen bei, denn die ersten Menschen waren schön und stark und langlebig.
Hatte Hellwah auch alle Kreaturen geschaffen, die auf der Erde wandelten, so waren die Vögel das Werk seiner Göttergattin Aphra, der Mondgöttin. Sie hatte die Vögel ihrem Gemahl
an ihrem Hochzeitstag zum Geschenk gemacht, denn es waren Wesen, die nicht einfach auf Erden wandelten, sondern sich in die Lüfte erhoben, in Richtung Sonne, um Hellwah näher zu sein und um ihn mit ihrem Flug zu erfreuen. Und weil sie für ihn gemacht waren, sangen die Vögel ihre frohen Lieder am Tag, solange sein Gestirn am Himmel schwebte, während in der Nacht nur jene Vögel ihre Stimme erhoben, die klagten.
Im Flug der Vögel konnte man die Launen und den Willen Hellwahs lesen, doch die wenigsten Menschen lernten diese Kunst, denn Hellwah und die anderen Götter lebten ja mitten unter ihnen. Wer seinen Willen erforschen wollte, konnte den höchsten der Götter einfach fragen, es brauchte keinen Vogelflug, um Antworten zu erhalten. Es waren gute Tage in jener Zeit.
Doch da kroch Samoth, der Gott der Orte, die nie von Sonne oder Mond beschienen wurden, der Herr der Würmer und aller Kreaturen, die in der Erde und in den Tiefen der Meere leben, aus seinem unterirdischen Reich herauf. Er hatte Freude an der Zwietracht, und so nahm er die Gestalt eines schönen Mannes an, ging zu dem Menschenkönig Daliath und umschmeichelte ihn, lobte seine Größe und seinen Verstand und die Kraft der Menschen, bis der König ihn seinen besten Freund nannte.
Da offenbarte Samoth dem König,
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