Der dritte Berg
bestreite ich mit einer Menge grässlicher, gefilterter Brühe. Es ist das, was man in einem solchen Land Kaffee nennt. Mein Notebook steht vor mir. Spät bin ich von meinem Neckarufer zurückgekommen; noch immer hängen die Gedanken an Maggie um mich. Ich bin müde und meine Augen schmerzen. Maggie hätte Abhilfe schaffen können. Manchmal hat sie mir Umschläge mit einer Kräuteressenz gemacht und mich eine halbe Stunde lang in ihr Bett verbannt, während sie an ihrem Schreibtisch arbeitete.
Ich kann kaum noch lesen. Es ist ja nicht bloß die Müdigkeit, die meinen Augen zusetzt. Es ist eine chronische Netzhautentzündung, die ihre Existenz einem myelodysplastischen Syndrom verdankt, einer Vorstufe der Leukämie. Dieses Syndrom hat mich im Alter von acht Jahren mehrere Monate lang aufs Krankenlager gezwungen.
Jetzt fangen die Worte auf dem Bildschirm meines Notebooks an zu vibrieren. Dann huschen sie im Kreis herum. Ich schließe die Augen für eine Weile. Ich atme mehrmals tief durch und lese endlich weiter.
… das beinahe automatische Anwachsen der Lebenserwartung, welches wir seit Jahrzehnten zu beobachten glauben, fußt in Wahrheit auf Trugschlüssen. Eine Tatsache, verehrte Damen und Herren, die auf Besonderheiten der Statistik ebenso wie auf die materielle Entwicklung der Zivilisation und die damit einhergehende Verbesserung unserer Lebensumstände zurückzuführen ist. Man kann daher sagen, wir befänden uns bloß in einem Konsolidierungsprozess. Das maximal erreichbare durchschnittliche Lebensalter kann bei knapp hundert Jahren angesetzt werden. Die Älteren von uns werden hundertundzwanzig Jahre alt werden. Schon in antiken Texten aus Indien spricht man – ein hochinteressantes Faktum – von dieser Lebensspanne. Hundertundzwanzig Jahre. Doch wollen wir darüber hinausgehen, stoßen wir an eine biologische Grenze. Sie kann nur überschritten werden, wenn die Telomere an den Enden der Chromosomenmoleküle vor der Zerstörung bewahrt werden könnten, Mutationen in den Körperzellen vorgebeugt und Zellabfall abgeführt wird. Ganz zu schweigen von der Erhaltung der Proteinfaltung …
Aus den genannten Gründen kann eine weitere Erhöhung des Lebensalters nicht durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung u.dgl., sondern ausschließlich mit neuen, biochemisch wirksamen Substanzen erreicht werden. Wo aber sind diese revolutionären Stoffe zu finden? Gibt es Hoffnung auf sie? Kann das mysterium enthüllt werden? Die Forschung hinkt hier der Zivilisation hinterher, und die Augen der Forscher wenden sich gegenwärtig von ihren Laboren ab und Gottes Großem Labor zu, dem regnum plantae , diesem gigantischen pharmakologischen Versuchsfeld …
Horst Maettgen hat diesen Vortrag im vergangenen Oktober gehalten, in London, am Eröffnungsabend der 7th Annual AROGA -Conference . Ich wundere mich über einen Zellbiologen, der mutig genug ist, auf einer wissenschaftlichen Zusammenkunft die Worte Gott und mysterium im Mund zu führen und von seinem Großen Labor zu sprechen. Ich klappe das Notebook zu. Dann verziehe ich mich auf mein Zimmer und träufle Cortisonlösung in die Augenwinkel, um die aufflammende Entzündung zu dämpfen. Dazu schlucke ich ein Schmerzmittel. Schließlich lege ich mich in Schuhen auf das Bett, schließe wieder meine Augen und entspanne sie, indem ich die Handflächen auf sie lege. Erst eine halbe Stunde später setze ich mich in Bewegung.
ERBARMUNGSLOSER WALD . Überallhin dreißig Kilometer weit gestreckt, nach Norden wohl mehr als hundert; Fichtenarmeen mit Flechtengehänge, Blaubeermeere und Föhrengesprenkel, Letztere sehr hoch; hin und wieder auch eine silbrige Tannengruppe, dann eine scheue Eschenfamilie, silva sine fine und fast ohne Atempausen (wenn man Freiburg, Baden-Baden, Calw!, Freudenstadt, hundertfünfzig Dörfer und eine Handvoll kleiner Städtchen gnädigst subtrahiert); dieser Wald ist, notwendigerweise, auf manche Art grün, meist jedoch fichtendunkelgrün, die Seen sind schlammbraun und die Pfade, über die ich vor einer Stunde gegangen bin, sind finster und voll zwielichtiger Gefühle. Unter mir liegen an diesem kühlen, bewölkten Mittag kilometerdick Gneis und Granit, und nur eines ist dieser gigantische Wald nicht: schwarz.
Verenge ich meinen Blick aber auf das gegenwärtig Sichtbare, sehe ich unmittelbar um mich bloß dichtes, dürres Riedgras. Ich lungere auf meiner alten Schafwolldecke, während neben mir ein Jägerhochstand seinen Kopf in die
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