Der dritte Berg
sagt Gabriela, »deine arme Maggie wird davon auch nicht wieder lebendig.«
Auf meinem Riedgrasposten ist es kühler als gestern. Der Himmel ist vollgefüllt mit Stratocumuli stratiformes opaci . Die Stratocumuli drängeln sich in endlosen Wellen heran, bis sich ein gesichtsloser Ozean über meinem Kopf ausdehnt; eine Decke aus bleiern-blauem Wasser. Zum ersten Mal hasse ich Wolken. Diese hier haben die Farbe von Maggies Augenlidern in der Gerichtsmedizin.
Die Villa zieht es vor, die Morgenstille in den Tag hinüberzutragen. Der Mittag vergeht. Am frühen Nachmittag schleiche ich in den Wald, um Wasser abzuschlagen. Danach vertrete ich mir in der Deckung des Waldrands die Beine. Und als ich zurückkomme, vollführe ich einen Hechtsprung in Richtung meiner Schafwolldecke. Eine dunkelbraune Limousine fährt soeben auf Maettgens Haus zu, und dicht hinter ihr ein wuchtiger, schwarzer Geländewagen; sie verschwinden hinter Maettgens Villa und kommen nicht wieder zum Vorschein. Kurz darauf öffnen sich zu gleicher Zeit im gesamten Haus die Fensterläden. Ich halte den Atem an. Ich liege auf dem Bauch. Gegen halb sechs Uhr, es dämmert bereits und hat aufgeklart, schließt man die Läden wieder. Dann nichts. Wenig später jedoch kurz Licht im Dachgeschoss, in einem schrägen, kleinen Dachfenster. Ich habe keinen Plan für einen Fall wie diesen, und ich denke bloß daran, die Gelegenheit zu ergreifen, um abermals an Maettgens Haustür zu klingeln. Dann aber entschließe ich mich zu einer diskreteren Vorgangsweise.
In der einsetzenden Nacht laufe ich die zum Haus abfallende Wiese hinunter. Ich klettere über den einfachen Holzzaun in Maettgens Garten und pirsche an der Innenseite des Zauns entlang. In der Föhrengruppe halte ich inne und bewege mich dann langsam auf das Haus zu. Die knirschenden Kieswege meide ich. An der Terrasse angekommen, bemerke ich, dass einer der Türläden klemmt und nicht vollständig schließt. Er lässt einen dünnen Lichtbalken aus dem Haus zu mir nach draußen fallen.
Kurz darauf, die Augen am Lichtspalt: Ein Mann sitzt krumm an einem Schreibtisch aus dunklem Nussholz. Ein breiter, fast kahler Hinterkopf, ein mächtiger Rücken. Das kann nur Maettgen sein, und er schreibt, bewegt dabei seine Schultern mit einem leichten Zucken. Eine Schreiblampe und zwei Stehlampen erhellen den Raum. Ich zögere. Der Rücken vor mir greift zu einem Diktafon und spricht ein paar Sätze in den kleinen Apparat. Ich atme kurz und trockne unschlüssig die schweißnassen Hände an meinen Jeans, als Christian den Raum betritt.
CHRISTIAN IST EINE hundertzweiundneunzig Zentimeter große Illustration dessen, was Willenskraft und Ehrgeiz aus dir machen können. Auf dem Weg zum Gipfel lassen sie dich eine Menge kleiner Dinge übersehen. Und wären da nicht Indien und unsere Väter, würden wir beide niemals als Freunde durchgehen. Mein Vater hatte bis vor wenigen Jahren eine Professur für Wirtschaftswissenschaften inne, dazu ist er strenger Katholik (eine folgenreiche Charakterschwäche, die meine Wiener Großmutter zu verantworten hat), und Christians Vater, ein Protestant aus dem Städtchen Baden bei Zürich, leitet bis heute eine reformistische Privatschule. Beide religiös bis auf die Ohrknöchelchen. Beide im ehernen Besitz der Wahrheit. Für Christian jedenfalls bis heute Grund genug, über seine Herkunft zu sprechen, als handle es sich um ein schwarzes Krebsgeschwür. Sein ganzes Leben lang hat Christian sich abgemüht, alles hinter sich zu lassen, die Schweiz, den dunklen Schweizer Protestantismus, seine Familie, auch den schweizerischen Akzent. Er hasst dieses Land fast so, wie er seine füllige, erdrückende Mutter hasst (gegen die er sich aber niemals bewusst wendet, sie bedeutet ihm einfach nichts; es ist ein träger Hass).
Maettgen blickt kurz auf, dann sagt er ein paar Worte. Christian schweigt. Er lässt seine hagere Gestalt in einen Stuhl fallen. Ich bebe am ganzen Körper. Seit einem vollen Monat denke ich, Christian halte sich in einer entlegenen Gegend Indiens auf, und jetzt sitzt er hier und blickt düster durch ein Schwarzwaldhaus.
Christian trägt sein dunkles Haar kürzer als zuvor, die grauen Schläfen liegen wie kleine Flügel an seinem Kopf. Die imposante Hakennase, die ihm zusammen mit dem braungelben Teint seiner Haut als Junge den Namen Apache eingebracht hat, steckt noch knochiger unter dem nadelscharfen Blick. Die schmalen Lippen hat er zusammengepresst, und seine handgenähten
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