Der dritte Berg
dich mit diesen Dingen rum?«, sagt er, als er sich wieder setzt. »Deine tote Freundin?«
Ich blicke auf. Es ist ein seltsames Gefühl, von seinem eigenen Vater verstanden zu werden.
»Oder sollten da gewisse kämpferische Gene endgültig die Oberhand gewinnen?«
Bei diesen Worten dreht er sich zu einem anderen Bild, das an der Wand hängt. Es zeigt einen Mann mit weichem Brahmanengesicht unter militärischer Kopfbedeckung. Der Blick ist visionär in die Ferne gerichtet, vielleicht betrachtet er auch bloß Geschützstellungen, die Lippen sind voll und das Kinn ist, wie bei meinem Vater und bei mir, nicht zu übersehen. Im Blick meines Vater, der seinen Vater niemals kennengelernt hat, steht jetzt eine abgründige Liebe. Und dazu noch ein ganzes Meer voll Melancholie und imaginierter Erinnerung.
SHIVMANGAL RAI , Träger kämpferischer Gene, greift im März 1944 mit der Indian National Army das britische Imperium im Osten Indiens an. Die INA feiert erste Siege. Sie kämpft in Burma, dringt schließlich in Indien ein, dem Herzstück des britischen Empires, mit dem dieses Empire steht und fällt, doch dann misslingt die entscheidende Belagerung der ostindischen Stadt Imphal, die man zum vorübergehenden Hauptquartier einer neuen indischen Regierung machen will. Trotz hoher britischer Verluste, fast zwanzigtausend Männer sterben in den englischen Reihen, ist es aber nicht nur ein anfänglicher Misserfolg der INA , es ist eine entscheidende militärische Niederlage. In der Folge wird die INA daher zu einer gejagten, chaotischen Truppe, welche mit den Schrecknissen der westbirmanischen Bergwälder und des Monsuns Bekanntschaft macht. Viele Berufssoldaten desertieren, die kurz zuvor in Südostasien rekrutierten indischen Plantagenarbeiter bleiben, sie können nirgendwohin und kämpfen für ein Land, das bloß ihre Eltern noch gesehen haben. Shivmangal führt einen Teil der bald zu einem jämmerlichen Haufen zerschossenen, hungernden INA , die der Dschungel langsam auffrisst, die der Fieberschlamm verschluckt, mit Geschwüren übersät und als graugesichtige, dürre Männlein wieder von sich speit. Und so liegen sie wochenlang unter englischem Feuer, ständig auf der Flucht, und Shivmangal, der gezwungen ist, Deserteure hinrichten zu lassen, und dessen Ziel bestenfalls ein Kriegsgericht in Delhi sein kann, kämpft und fällt von englischer Hand.
An diesem Abend fahre ich nach Gablitz, einem Vorort von Wien, und nehme mir dort ein Hotelzimmer. Ein Aufenthalt in meiner Wohnung kommt nicht in Frage. Ebenso wenig habe ich die Absicht, meinen Vater durch meine Gegenwart in Bedrängnis zu bringen. Es kann sein, dass man inzwischen rausgekriegt hat, um wen es sich bei dem Eindringling im Schwarzwald gehandelt hat.
Am Morgenhimmel zeigen sich Altocumuli lenticulares . Das sind selten zu sehende Wolkenformen – linsenförmige, ausgefranste Schiffsbäuche, die in einem unnatürlichen Blau schwimmen.
Ich habe meinen Wagen abgestellt und nähere mich Schmithausens Domizil zu Fuß. Ich bin eine halbe Stunde zu früh dran.
Der Türkische Tanz, Köchelverzeichnis 331. Ich fische mein Telefon aus der Tasche. Ich ertrage nur Mozart, jeder andere Klingelton fügt mir Schmerzen zu.
Chefinspektor Fiala. Ob ich denn nicht einmal bei ihm vorbeischauen könne, fragt er. Es gebe neue Fakten, hm, Entwicklungen, im Fall Margaret Chelseworth.
»Ich bin gerade beschäftigt.«
»Und wann, denken Sie …«
»Passt es Ihnen morgen, um zehn?«
Es passt ihm. Er brauche meine Hilfe, sagt Fiala, »außerdem sicher auch interessant für Sie, hm, ich meine aufschlussreich.«
Ich habe keine Ahnung, worüber Fiala spricht.
Xaver Schmithausens Stadthaus in der Ghelengasse hat beinahe schon den Wald im Rücken liegen. Es besitzt Holzveranden und verglaste Balkons. Schmithausen mag noch nicht von der Universität zurück sein, aber bevor ich einen kleinen Spaziergang hinauf zum Wald unternehme, will ich es bei ihm versuchen. Efeu klettert die graugelben Fassaden des Hauses hoch; ich halte am offen stehenden Gartentor inne. Ein mit Schieferplatten belegter Weg führt zur Eingangstreppe. Ich klingle, es rührt sich nichts. Doch kann der vergilbte Klingelknopf den Geist aufgegeben haben. Langsam gehe ich durch das weit offen stehende Gartentor auf das Haus zu und dann die Treppe hoch bis zu einer zweiflügeligen Eingangstür. Bevor ich die Klingel am Türstock auf die Probe stellen kann, bemerke ich einen Spalt in der Haustür. Auch sie steht offen.
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