Der dritte Kontinent (Artesian 3) (German Edition)

Erinnerung nach dem Hinweis, den er so dringend benötigte. Wie lautete die goldene Regel des Labyrinths?
    Voraus war eine weitere Abzweigung. Als er sie erreichte, wandte er sich nach links.
    „Ihr wählt besser die andere Richtung.“
    Für einen kurzen Moment glaubte Hockster, Naggits Stimme zu hören, aber das war nicht möglich. Es war Tippet! „Wo steckst du?“, fragte er.
    „Ihr findet Euren Tod schneller als Euch lieb ist, Reisender“, sagte die Drachin, „wenn Ihr so unvorsichtig dahertappt.“ Sie trat in den Schein des kleinen Lichts.
    Hockster sah Tippet an. „Danke!“, sagte er nur.
    Für einen kurzen Moment schien es, als hätte es ihr die Sprache verschlagen, dann sagte sie: „Gern geschehen, Reisender. Kommt, ich werde Euch führen.“ Sie drehte sich um und wieselte davon. Nach einem guten Dutzend Schritte blieb sie stehen und sah zurück.
    „Sie kriegen Euch, wenn Ihr blöd da steht und Maulaffen feil haltet. Setzt Euch in Bewegung.“
    „Wo führst du mich hin?“
    „Habt Ihr neuerlich ein weiteres Mal Euer Misstrauen mir gegenüber entdeckt, Reisender?“ Sie seufzte schwer. „Hinaus! Ich führe Euch hinaus. Zwar hält mich hier mehr, als mich an Eurer Heimat lockt, aber ein Bleiben kommt nicht länger infrage. Ich verlasse meine Heimat. Vielleicht liegt es daran, dass man sich jedes ’Woanders’ schöner vorstellt, wenn das ’Hier’ nur grau und trist ist, vielleicht will ich aber nur sehen, ob ihr Wort haltet und mir Juwelen schenkt. Hier bin ich und will Euch helfen, Reisender. Entscheidet Euch!“
    Hockster verzog das Gesicht. „Ich habe ein Haus in Diwenstein. Wenn ich es verkaufe, gebe ich dir die ganze Summe, aber es wird wohl nicht für ein paar Edelsteine reichen. Ich kann mein Versprechen nicht halten. Serkal ist ein König wie jeder andere. Mein Versprechen ist für ihn bedeutungslos. Du hast mir geholfen und dafür danke ich dir, aber mehr als Dank werde ich dir nicht geben können.“
    „Keine Smaragde?“
    Hockster zuckte die Schultern. „Einen ganz Kleinen vielleicht.“
    „Einverstanden. Smaragde im Wert Eures Hauses in Diwenstein.“
    „Einverstanden!“
    „Dann folgt mir, Reisender, ich bringe Euch nach Lomakk und mit ein wenig Glück übers Meer.“
    „Werden deine Herren dich nicht vermissen?“
    „Kein Nat Chatka ist mein Herr. Sie und ich haben nichts gemeinsam. Ihr Leitsatz für ein gedeihliches Miteinander lautet: Wer brüllt, hat Recht! Der Grimmigste wird König.“
     
    Wieder eilte Tippet voraus und Hockster folgte ihr. Sie war eine ausgezeichnete Führerin. „Du kennst dich hier gut aus!“, sagte Hockster anerkennend.
    „Ich glaube nicht. Die Gänge sind einander so ähnlich, dass man ein halbes Leben bräuchte, um sie alle voneinander unterscheiden zu können.“
    „Aber du verläufst dich nie – offenbar.“
    „Ich kenne die Regel und wende sie an!“
    „Die goldene   ...“
    „Still!“, zischte sie. „Ihr müsst jetzt leise sein. So leise, wie es Euch möglich ist. Nein!“ Sie sah ihn eindringlich an. „Seid so leise wie ich.“
    „Wie soll ich das denn anstellen?“
    „Setzt Euch hohe Ziele, dann erreicht Ihr mehr. Folgt Eurer Intuition.“
    „Ich glaube, ich habe vollauf damit zu tun, dir zu folgen“, erklärte Hockster. „Du hast keine Ahnung, wie schwer das ist.“
    Tippets Ohren zuckten mal hierhin und mal dahin. Welche Geräusche sie hörte, konnte Hockster nicht einmal erahnen, aber er erkannte die Anspannung in ihrem Körper. Sie ähnelte Naggit wie eine Rose der anderen, und wie eine Rose sich von der anderen unterscheidet, fand er in ihr schönes und wildes zugleich. Sie schien viel härter als Naggit und, da er schon dabei war, auch härter als er selbst. Ständig hatte man den Eindruck, sie schärfte mit jedem gesprochenen Wort ihre Krallen an der Aufmerksamkeit ihres Zuhörers. Sie war gewandt und kannte keine Furcht. Doch wie war sie hierhergekommen? Hatte sie wirklich keine Familie?
    Während er einen Fuß vor den anderen setzte, musste er sich eingestehen, dass er über ihre Rückkehr mehr als erfreut war. Er hatte schon damit gerechnet, irgendwo in diesen Gängen zu sterben, bis dann irgendeines Tages fortschrittliche Chetekkenforscher seine sterblichen Überreste gefunden und sich wahrscheinlich gefragt hätten, ob mit diesem Fund die Existenz einer bis dahin unbekannten Spezies belegt werden könnte.
    Hockster lief wie im Halbschlaf dahin, den Blick fest auf den flinken schwarzen Schatten vor ihm