Der dritte Zustand
Vorausgesetzt, der in Schwierigkeiten geratene Freund verschließt sich nicht, verschanzt sich nicht hinter einer Barrikade von Lügen und Phrasen, öffnet sich so weit, dir bescheiden zuzuhören und ein Spektrum an Möglichkeiten zu durchdenken, die er vorher auf der Stelle zurückgewiesen hat – nicht aus Bosheit, sondern aufgrund von Vorurteilen, überholten Denkschemata, tief verwurzelten Ängsten. Was ist denn Schlechtes an einem Kompromiß, Herr Schamir? Jede Seite bekommt zwar nur einen Teil dessen, was ihr nach ihrer Meinung rechtmäßig zusteht, aber das Grauen würde doch enden? Die Wunden könntenlangsam vernarben? Sie sind doch selbst als eine Art Kompromißkandidat zu Ihrem Amt gekommen? Gewiß haben auch Sie hier und da mit Ihren Freunden eine Übereinkunft getroffen? Mit Ihrer Frau? Nein?
Ja, warum sollte er eigentlich nicht an die Tür klopfen? Ein Glas heißen Tee genießen, die Jacke ablegen und ein für allemal erklären, was die Vernunft gebot und welche Richtung die historische Entwicklung nahm? Oder umgekehrt den Ministerpräsidenten überreden, ebenfalls einen Mantel überzuziehen und ihn zu einem nächtlichen Spaziergang mit langem Seelenaustausch durch die leeren, naßkalten Straßen zu begleiten – hier und da von einer triefenden, nebel- und schwermut-umwobenen Laterne beleuchtet? Eine strenge, sich kasteiende Stadt ist Jerusalem in einer Winternacht. Aber es ist noch nichts verloren, mein Herr. Noch kann man ein neues Kapitel beginnen. Hundert Jahre hat das blutrünstige Vorwort hier gedauert, und jetzt schließen wir einen Kompromiß und machen uns an die Haupthandlung. Von nun an werden die Juden als ein Volk leben, das in seinem Land zur Ruhe gekommen ist und endlich die in ihm verborgenen schöpferischen Erneuerungskräfte entdeckt, die bisher unter dicken Schichten von Angst und Wut nach Pogromen, Verfolgungen und Vernichtung begraben lagen. Wollen wir es versuchen, mein Herr? Behutsam? Mit kleinen, wohlbedachten Schritten?
Der Polizist, der im Wachhäuschen vor der Amtswohnung saß, streckte den Kopf heraus und fragte: »Kommen Sie mal, suchen Sie hier was?«
»Ja«, erwiderte Fima, »ich suche das Morgen.«
»Dann suchen Sie lieber woanders, mein Herr«, riet ihm der Wachmann zuvorkommend. »Weitergehen. Nicht hier stehenbleiben.«
Diese Empfehlung beschloß Fima auf der Stelle wörtlich zu nehmen: Weitergehen. Fortschreiten. Nicht ablassen. Kämpfen, solange man noch fähig ist, Worte aneinanderzufügen und zwischen Ideen zu unterscheiden. Die Frage war nur, wohin konnte man fortschreiten? Womit sollte er weitermachen? Tatsächlich hatte er doch noch gar nicht angefangen. Aber womit anfangen? Wo? Und wie? Im selben Augenblick meinte er aus der Nähe eine ruhige, kluge Stimme zu hören, die ihn ganz prosaisch beim Namen rief: Fima. Wo bist du.
Er hielt inne und antwortete sofort inbrünstig: Ja. Hier. Ich höre.
Aber nur das Geschrei rolliger Katzen war zwischen den feuchten Steinmäuerchen zu hören. Und danach, wie ein alles aufsaugender Schwamm, das Rauschen des Windes in den Pinien im Dunkel der verlassenen Höfe.
Sitra de-itkassia. Die verborgene Seite.
Er schlenderte langsam weiter, am Terra-Santa-Gebäude vorbei, in dem kein einziges Licht brannte, wartete am Paris-Platz drei Minuten auf das Umspringen der Ampel und begann die King-George-Straße zum Stadtzentrum hinaufzutrotten. Er achtete weder auf die Kälte, die durch die Jacke bis zur Haut drang, noch auf die wenigen Passanten, die ihm – allesamt schnell ausschreitend – begegneten, wobei einige vielleicht auch einen Seitenblick auf diese sonderbare, in sich gekehrte Gestalt warfen, die müden Schritts dahinstapfte und gänzlich in eine scharfe Debatte mit sich selbst versunken zu sein schien, begleitet von Gesten und brummelnden Lippenbewegungen. Er hatte äußerst unüberlegt gehandelt, als er heute morgen auf jede Vorsichtsmaßnahme verzichtete. Wenn er Annette Tadmor nun etwa geschwängert hatte? Dann müßte er wieder einen Frachtdampfer besteigen und flüchten. Nach Griechenland. Nach Ninive. Nach Alaska. Oder auf die Galapagosinseln. In Annettes dämmrigem Schoß, im dunklen Labyrinth feuchter Kälte bahnte sich sein blinder Samen genau in diesem Moment mit lächerlichen Schwanzbewegungen seinen Weg, flutschte hierhin und dorthin im warmen Naß – eine Art runder, kahler Fima-Kopf, vielleicht ebenfalls mit einer mikroskopischen, feuchten Schirmmütze bekleidet, ohne Augen, ohne Verstand, einfach aus
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