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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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den Tiefen der geheimnisvollen Wärmequelle zustrebend, das ganze Wesen nur Schädel und Schwanz, Fortbewegungs- und Unterschlupftrieb –, durchstieß die Haut des Eis, in allem seinem Vater ähnlich, der sich nur danach sehnte, sich ein für allemal in der Tiefe weiblicher Schleimhäute einzukuscheln, es sich wohl sein zu lassen und wonnig zu schlafen. Fima war auf einmal von Grauen und brennender Eifersucht auf seinen Samen erfüllt. Und aus seiner Eifersucht heraus grinste er. An einer gelben Laterne vor der Front der Jeschurun-Synagoge hielt er inne und beugte sich über seine Uhr: Man konnte durchaus noch die zweite Abendvorstellung im Orion-Kino schaffen. Jean Gabin würde ihn sicher nicht enttäuschen. Aber wo genau wollte er Annette abholen? Oder Nina? Oder wo hätten sie ihn abholen wollen? Offenbar würde er seinerseits heute abend Jean Gabin enttäuschen müssen. Ein junges, lautes Pärchen überholte Fima, der langsam am Ma’alot-Gebäude nahe der früheren Knesset vorbeiwanderte.
    Der junge Mann sagte: »Gut. Dann geben wir eben beide nach.«
    Und die junge Frau: »Jetzt hilft das nichts mehr.«
    Fima beschleunigte seine Schritte, um noch weitere Gesprächsfetzenaufzuschnappen. Irgendwie drängte es ihn zu erfahren, von welchen Verzichten die Rede war und was jetzt nichts mehr half: Hatten die beiden heute abend etwa ebenfalls vergessen, sich gegen die Gefahr der Schwangerschaft zu schützen? Doch da wirbelte der Jüngling wütend herum, sprang an die Bordsteinkante, hob den Arm, worauf in Sekundenschnelle ein Taxi neben ihm hielt, und beugte sich zum Einsteigen, ohne seine Partnerin auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Fima begriff sofort, daß dieses junge Mädchen im nächsten Augenblick mitten auf der regennassen Straße allein zurückbleiben würde. Und schon lagen ihm einleitende Worte auf der Zunge, behutsam tröstende Wendungen, die sie nicht erschrecken würden, ein weiser, trauriger Satz, der sie gewiß unter Tränen lächeln ließ. Aber er kam nicht mehr dazu.
    Das junge Mädchen rief: »Komm zurück, Joav. Ich geb’ nach.«
    Worauf der junge Bursche, ohne den Wagenschlag wieder zuzumachen, zu ihr sprang, ihr den Arm um die Hüften legte und ihr etwas zuflüsterte, das sie alle beide losprusten ließ. Der Taxifahrer fluchte hinter ihnen her, und Fima hielt es augenblicklich – ohne sich zu fragen, warum – für seine Pflicht, die Sache wieder geradezubiegen und den Fahrer zu entschädigen. Also stieg er in das Taxi, schloß die Tür und sagte: »Entschuldigen Sie das Durcheinander. Nach Kiriat Jovel bitte.«
    Der Fahrer, ein dicker Mann mit dichtem, graumelierten Haar, kleinen Augen und gepflegtem levantinischen Schnurrbart, schimpfte wütend: »Was ist das denn hier? Erst ein Taxi stoppen und es sich dann anders überlegen? Ja, wißt ihr denn nicht, was ihr wollt?«
    Fima begriff, daß der Fahrer ihn mit dem Pärchen in einen Topf warf, und stammelte entschuldigend: »Was ist denn, was ist schon passiert, hat ja keine halbe Minute gedauert, und schon hatten wir uns entschieden. War nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Sie brauchen sich nicht aufzuregen.«
    Er war fest entschlossen, wieder ein politisches Gespräch anzufangen. Aber diesmal würde er wilde, blutdürstige Reden nicht mit Schweigen übergehen, sondern sich an einfachen, klaren Argumenten von wohlfundierter, einwandfreier Logik versuchen. Ja, er hätte liebend gern auf der Stelle die Ansprache fortgeführt, die er vorhin dem Ministerpräsidenten zu halten begonnen hatte. Ausgehend von dem Punkt, an dem er in Gedanken stehengeblieben war. Doch als er anfing behutsam herumzutasten – etwa wie ein Zahnarzt durch leichtes Antippen den Schmerzherd zu ortensucht –, um festzustellen, was der Fahrer über die Gebiete und den Frieden dachte, unterbrach der ihn gemächlich: »Damit lassen Sie mich man in Ruhe, mein Herr. Also meine Auffassungen, die fallen den Leuten bloß auf’n Wecker. Die hören mich – und kriegen gleich ’n Anfall. Deshalb hab’ ich schon längst aufgehört zu diskutieren. Was soll man sich verrückt machen. Also wenn ich diesen Staat in die Hände bekäme, den würd’ ich innerhalb von drei Monaten auf die Beine stellen. Aber die Menschen hierzulande denken schon lange nicht mehr mit’m Verstand. Mit’m Bauch denken se. Mit’n Eiern. Was soll man seine Gesundheit für nix ruinieren. Jedesmal, wenn das damit losgeht, dreh’ ich schier durch. Kann man nix machen. Hier herrscht der Mob.

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