Der dritte Zustand
»Ungerecht? Dann unterschreib halt einen Aufruf.«
Mit müder Hand malte er Kringel und Dreiecke, Kreuze und Davidsterne, Raketen und schwere Brüste auf das Blatt vor sich. Zwischen die Bilder schrieb er unwillkürlich die Liedzeile, die ihm auf dem Herweg eingefallen war: Schwebt und kreist, ihr Kraniche. Und darunter die Worte: »Springt und kreißt, ihr Karnickel.« Und strich es wieder aus. Dann knüllte er den Bogen zusammen und warf ihn nach dem Papierkorb. Traf aber daneben.
Nun kam er auf die Idee, die freie Zeit für zwei Briefe zu nutzen, einen offenen als Antwort auf Günter Grass zur Frage von Schuld und Verantwortung und einen privaten als späte Erwiderung auf Jaels vierundzwanzig Jahre zurückliegenden Abschiedsbrief. Vor allem lag ihm daran, sich selber und Jael zu erklären, warum er zwei Oberste der Luftwaffe gröblich beleidigt hatte, die an jenem Samstagabend eigens ins Haus gekommen waren, um ihn zu überzeugen, daß Jaels ein- bis zweijähriger Arbeitsaufenthalt in Seattle oder Pasadena von nationaler Bedeutung sei. Auch jetzt noch blieb er bei seiner Meinung, daß die Worte »nationales Interesse« zumeist als Deckmantel für sieben Plagen dienten. Aber nun, in der Mitte seines Lebens, hielt er sich nicht mehr für würdig, Moral zu predigen.
Mit welchem Recht? Was hast du denn in deinem Leben getan? Erwächst etwa Joeser und seinen Freunden, die in hundert Jahren hier an unserer Stelle leben werden, irgendein Nutzen daraus, daß in Jerusalemeinmal ein nervender, träger Bursche herumgelaufen ist, der nicht aufhören konnte, allen mit seinen kleinlichen Sprachkorrekturen zuzusetzen? Es mit verheirateten Frauen zu treiben? Auf den Ministern herumzuhacken? Sich mit Schleuderschwänzen und Kakerlaken zu streiten? Während sogar ein boshafter Mensch wie Gad Etan hier Patientinnen geheilt und unfruchtbaren Frauen den Schoß aufgetan hat?
Als das Telefon klingelte und Fima wie gewöhnlich, »Praxis, Schalom« antworten wollte, entfleuchten ihm die Worte »Praxis, Chalom«. Sofort kicherte er über die vermeintliche Traumpraxis, geriet ins Stottern, versuchte den Lapsus durch blinde Witzelei zu beseitigen, verhedderte sich dabei, korrigierte sich, erklärte umständlich die Korrektur und gab Rachel Pintu einen eiligen Termin für die nächste Woche, obwohl sie ihn gar nicht um einen dringenden Termin gebeten hatte, sondern sich nur zu einer Routineuntersuchung anmelden wollte.
Wer weiß? Vielleicht hat ihr Mann sie auch verlassen? Hat sich eine junge Freundin angelacht? Oder ist beim Reservedienst in den Gebieten umgekommen, und nun ist niemand da, der sie trösten könnte?
25.
Finger, die keine sind
Um sieben ließen sie die Läden herunter und schlossen die Praxis ab. Regen und Wind hatten aufgehört. Kristallklare Kälte lag über Jerusalem. Sterne glühten in scharfem Winterglanz. Und aus dem Osten sandten christliche Glocken ein lautes, einsames Geläut, als finde die Kreuzigung auf Golgota eben jetzt statt.
Dr. Wahrhaftig fuhr mit dem Taxi nach Hause, in Gesellschaft von Tamar, die er wie gewöhnlich am Rechavia-Gymnasium abzusetzen versprach. Gad Etan verdrückte sich im Dunkeln in die Gasse, in der er seinen Sportwagen geparkt hatte. Während Fima – in seine Jacke gehüllt, den Kragen hochgestellt, auf dem Kopf die speckige, verblichene Schirmmütze – rund zehn Minuten an der öden Bushaltestelle stand und auf ein Wunder wartete. Er hatte die Absicht, Zwi und Schula Kropotkin in ihrem Haus am unteren Ende der Gaza-Straße aufzusuchen, sich an dem Napoleon zu laben, den Zwicka ihm versprochen hatte, die Beine vor dem Ofen auszustrecken und ihnen seine Gedanken über die Kluft zwischenJuden und Christen darzulegen, die gerade deshalb tief und dunkel klaffe, weil es sich gewissermaßen um eine Familienfehde handele, während unser Zwist mit dem Islam nichts als ein vorübergehender Streit um Grundstücke sei – in dreißig, vierzig Jahren wird sich kein Mensch mehr daran erinnern, während die Christen uns auch in tausend Jahren noch als Gottesmörder betrachten und als verfluchter Bruder behandeln werden. Die Worte »verfluchter Bruder« versetzten ihm einen jähen Stich ins Herz, weil sie ihn an das Baby erinnerten, das seine Mutter vor fünfzig Jahren zur Welt gebracht hatte, als er vier war. Dieses Baby mußte wohl im Alter von drei Wochen an einem Geburtsfehler gestorben sein, dessen Art Fima nicht kannte, da man in seiner Anwesenheit nie darüber gesprochen hatte. Er
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